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Germanwings-Absturz
"Wir fragten uns, wo die Leichen sind"

Bei dem Absturz der Germanwings-Maschine in Südfrankreich starben im März alle 150 Insassen. An der Bergung und Identifizierung der Opfer waren 500 Experten beteiligt. Der Leiter hat nun auf einer Rechtsmedizin-Fachtagung über diese schwierige Aufgabe gesprochen.

Von Michael Stang | 21.09.2015
    Suchtruppen am Absturzort der Germanwings-Maschine
    Die Unglücksstelle in den französischen Alpen war nur aus der Luft zugänglich. (imago / UPI Photo)
    "Das Flugzeug stürzte morgens um kurz nach halb elf ab, um 17.00 Uhr saß ich im Hubschrauber, um vor Ort eine erste Einschätzung der Situation vornehmen zu können", sagt Charles Agostini von der französischen Gendarmerie. Der forensische Pathologe leitete die Identifizierung der 150 Toten - ein Projekt, an dem schließlich 500 Experten beteiligt waren. Die Unglücksstelle in den französischen Alpen war nur aus der Luft zugänglich. Vor Ort war die Situation unübersichtlich, selbst nach dem ersten Rundgang.
    "Wir fragten uns, wo die Leichen sind, denn wir sahen keine. Alles war zerstört, und überall verteilt. Der Ort ist schwer zugänglich, es gibt Steigungen bis zu 60 Prozent, Trümmerteile waren auf einer Fläche von 300 mal 400 Meter verstreut. Das einzige, was wir sahen, waren viele kleine Teile. Nur ein Leichnam war vollständig. Zusammen fanden wir mehr als 3.000 Körperteile."
    Drei Identifizierungseinheiten arbeiteten in mobilen Labors
    Charles Agostini und sein Team hatten die Aufgabe, die sterblichen Überreste von allen 150 Insassen, die aus 18 Ländern kamen, zu bergen und zu identifizieren. Ein Bergungsteam arbeitete sich in den Alpen von unten nach oben, das zweite von oben nach unten. Nach einer Woche trafen sich beide in der Mitte. Nach Abschluss der Bergung wurden drei Identifizierungseinheiten gebildet, die noch vor Ort in mobilen Labors ihre Arbeit aufnahmen. Das erste Team entnahm DNA-Proben der Leichenteile und verglich sie mit Proben, die Angehörige den Experten gebracht hatten. So konnten Körperteile zunächst einem Menschen zugeordnet werden, später dann dem Namen auf der Passagierliste.
    Die zweite Expertengruppe nahm Fingerabdrücke. Mithilfe dieser Methode wurden viele Passagiere identifiziert, da zahlreiche abgerissene Hände geborgen wurden. Viele der Insassen hatten ihre Fingerabdrücke bei früheren Reisen etwa in die USA abgegeben; somit lagen diese Informationen den Ermittlern vor. Rechtsmediziner der dritten Einheit untersuchten die Zähne und verglichen sie mit Unterlagen der jeweiligen Zahnärzte, in denen etwa Zahnprothesen oder Implantate aufgelistet waren.
    "Nach zwei Monaten hatten wir alle Informationen zusammen und konnten die Körperteile den einzelnen Passagieren zuordnen. Im Schnitt lagen in jedem Sarg rund 20 Körperteile."
    Rechtsmedizinische Aufarbeitung mittlerweile vollständig abgeschlossen
    Die Körper der Passagiere im vorderen Flugzeugteil waren fast alle komplett zerstört, da der 80 Meter lange Airbus A320 frontal gegen den Berg geflogen war. Die Zuordnung der Körperteile zu den Insassen im hinteren Flugzeugbereich sei einfacher gewesen, so Charles Agostini. Aber nicht alle sterblichen Überreste konnten die Experten den jeweiligen Passagieren zuordnen.
    "An einigen Körperteilen fanden wir einen Mix an DNA. Das waren die sterblichen Überreste von mehreren Passagieren, bei denen sich nicht mehr sagen ließ, das gehört zu diesem, das zu jenem Insassen. Diese Leichenteile haben wir so belassen und alle zusammen an der Unglücksstelle in einem Gemeinschaftsgrab bestattet."
    Die rechtsmedizinische Aufarbeitung ist mittlerweile vollständig abgeschlossen. Die Experten konnten alle 150 Insassen identifizieren, so Charles Agostini – und das innerhalb kurzer Zeit. Denn eine schnelle Identifizierung der Opfer sei nicht nur für die Staatsanwaltschaft, sondern auch für die Hinterbliebenen und deren Trauerbewältigung wichtig.