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Geschichten vom Überleben

"Massel - Letzte Zeugen" von Digne M. Marcovicz ist nicht das erste Mal, dass der Holocaust in Form einer Bildgeschichte, eines Comics verarbeitet wird: Art Spiegelman oder Joe Kubert gelangen so großartige und preisgekrönte Bücher. Die Berliner Fotoreporterin, Journalistin und Filmemacherin Marcovicz erzählt in "Massel" die Geschichte von Überlebenden, inspiriert von japanischen Mangas.

Von Sylvia Schwab | 14.04.2007
    Ein Comic über den Holocaust? Eine bunte Bildergeschichte über eines der düstersten Kapitel der Weltgeschichte? Wie kann das sein? Darf das überhaupt sein? Wer will das lesen? Und: wer kann das schreiben?

    Viele Fragen, auf die es nur eine Antwort geben kann, nämlich die nach der Qualität eines solchen Werkes. Und im Fall von "Massel - Letzte Zeugen" zeigt sich schon beim ersten Durchblättern, dass wir es mit einem ganz außergewöhnlichen Buch zu tun haben.

    Digne M. Marcovicz, inzwischen über 70 Jahre alt und selbst Mitglied einer verfolgten Familie, hatte vor, ein Buch über Menschen zu machen, die den Holocaust überlebt haben. Und sie wollte, dass nicht nur Erwachsene, sondern gerade auch Jugendliche es lesen. Digne Marcovicz:

    " Aber natürlich lesen diese jungen Menschen immer weniger dicke Bücher und vor allen Dingen kann ich das auch gut nachvollziehen, dass sie eine Scheu haben vor diesen KZ-Geschichten und vor diesen gruseligen, ausgemergelten Überlebenden, die ihnen nahe gebracht werden im Unterricht, in der Schule. Es stehen Besuche in den verschiedenen KZs auf dem Lehrplan und eigentlich stöhnen sie alle darüber. "

    Wie aber kann man den Holocaust und die Geschichten einzelner Betroffener in einem Buch so aufbereiten, dass Jugendliche Lust darauf haben, sich damit zu beschäftigen, fragte sich die Autorin. Durch ihren Enkelsohn lernte Digne Marcovicz Mangas kennen, jene manchmal grausamen, oft mit Science-Fiction-Elementen arbeitenden japanischen Comics. Von deren intensiven, schnellen, schrillen Darstellungen und Dialogen war sie einfach beeindruckt.

    " Und ich habe gedacht, das ist etwas, was junge Menschen wirklich fasziniert. Und das lesen sie dann auch gerne. Und ich hab mich entschlossen, dieses Buch, was ich vorhatte zu machen, über die Geschichten der Überlebenden des Holocaust, in dieser Art zu fertigen. "

    Über Überlebende wollte Digne Marcovicz schreiben. Dreizehn Personen hat sie dazu befragt - acht Frauen und fünf Männer. Zwar hatten diese alle letztendlich "Massel", Glück im Unglück, und wurden gerettet. Aber erlebt haben sie alles, was man als verfolgter Jude damals erleben konnte: den Alltag im Ghetto und im KZ, Widerstand und Todesmarsch, das Leben im Untergrund und den Verlust der gesamten Familie. Nur dass sie durch irgendeinen Zufall, durch mutige Unterstützung von außen, durch Flucht oder die rechtzeitige Rettung ins Ausland überlebten.

    Erst nach langen Recherchen war es Digne Marcovicz gelungen, in Berlin und Warschau Gesprächspartner zu finden, die bereit waren, ihre Geschichte für die Veröffentlichung in einem Buch zu erzählen. Gegen alle ihre Vorurteile, Ängste und Erinnerungen.

    " Also, es ist ja einfach immer noch so eine Animosität gegenüber Deutschen. Da kommt so eine deutsche Journalistin und will wieder mit unserer Geschichte Geld verdienen. Und das gleiche war in Israel. Ich hatte ja vor Jahren dort einen Film gedreht, Ich bin dort viel herumgekommen, und ich hab gehört von diesem "Kibbuz der Ghettokämpfer". Und da bin ich hingefahren eines Tages und da wurde ich auch nicht mit Freuden aufgenommen. Die haben auch nicht unbedingt auf eine Deutsche gewartet. Zum Teil können die die deutsche Sprache gar nicht hören, denn da wird ihnen übel, wenn sie sich erinnern an all das, was ihnen widerfahren ist. "

    Digne Marcovicz kann das sehr gut nachvollziehen - stammt sie doch selbst aus einer verfolgten Familie. Ihre Mutter war Jüdin, ihr Vater Widerstandskämpfer und ihre Halbschwester wurde in Plötzensee ermordet. Über all das möchte auch sie nicht sprechen. Stattdessen schrieb sie - vielleicht auch stellvertretend - in "Massel" die Geschichten anderer jüdischer Überlebender auf. Wobei sie die Originalerzählungen nur behutsam verändert, manchmal allerdings durch Zitate aus schriftlichen Texten ihrer Gesprächspartner ergänzt hat.

    Doch nicht die Geschichten sind es, die den außergewöhnlichen Rang von Digne Markoviczs "Massel" ausmachen, sondern deren Gestaltung. Denn Bilder beherrschen die Doppelseiten, Bilder der Interviewten und Archivfotos von damals. Portraits der zerfurchten Gesichter der Erzählenden und Bilder ihrer Umgebung, aber auch Fotos aus KZs, von Transporten und Denkmälern. Wobei die Bilder aus der Gegenwart der Erzählenden keine Fotos sind, sondern - bewusst leicht unscharf gehalten - aus einem Film stammen, den die Autorin während der Interviews gemacht hat. Sie wirken dadurch ungeheuer lebendig und rufen das Gefühl von Bewegung hervor. Dazu kommen Landkarten, Lagepläne und Gesetzestexte. Zeichnungen wie in Comics oder Mangas gibt es keine, abgesehen von ein paar Sprachblasen, die auch eher fremd wirken. Alle diese verschiedenen Abbildungen, teils bunt, teils schwarz-weiß, hat Digne Marcovicz zusammen mit ihrem Mitarbeiter Notker Schweikhardt am Computer aufeinander, nebeneinander und ineinander montiert. Entstanden sind daraus Collagen, mal über eine Seite, dann über zwei. Collagen voller Kontraste und Spannungen. Brave Reihung neben Comic-haftem Durcheinander, mal trist-grau, dann bunt-schrill. Digne Marcovicz:

    " Ich hatte da gar kein Problem, ich habe gedacht, ich mache das einfach. Ich spreche mit den Leuten und bebildere das gleichzeitig. So dass das nicht so spröde, so schwierig ist, sich damit zu befassen. Ich wollte, dass das dazu anregt, sich mit diesen Menschen und ihren Geschichten zu befassen. "

    Und in diese Bild-Collagen haben die beiden Buchkünstler - so muss man sie wirklich nennen - die Texte gearbeitet. In verschiedensten Schriften und Farben, in wechselnden Größen und Richtungen, zwischen die Abbildungen und um sie herum, in Streifen, Blöcken, Wolken. Besonders Wichtiges wird durch Farbe oder Schrifttypus noch einmal hervorgehoben, dick und rot steht zum Beispiel vor dem grau-weißen Bild eines Verbrennungsofens: "Sie haben lebendige Kinder ins Feuer geworfen." So etwas verschlägt dem Betrachter den Atem.

    Aber es ist ganz merkwürdig: So grauenvoll, so Mitleid erregend, so spannend und so unglaublich die Geschichten zum Teil auch sind, die Digne Marcovicz aufgezeichnet und bebildert hat - sie erschüttern den Betrachter nicht nur, irgendwie machen sie ihn auch froh. Denn sie verbreiten trotzdem Hoffnung. Wie die Rose auf dem Umschlagbild, die in einem KZ-Maschendrahtzaun steckt.

    " Ich wollte auch, dass das alles beruhigend und positiv wirkt. Denn wenn Sie dieses Buch anschauen und lesen, dann können Sie ja schon mal beruhigt sein, denn es gibt ein Happyend. Die Leute leben noch. Sie haben Massel gehabt. Massel heißt, ich habe Glück im Unglück gehabt, ich habe überlebt. Was zum Teil vollkommen unverständlich ist bei dem, was die Menschen durchgemacht haben. "

    Digne M. Marcovicz: Massel - Letzte Zeugen. Mit zahlreichen farbigen Fotos. Mitarbeit Notker Schweikhardt. Carl Hanser Verlag, München 2007. 384 S., brosch.