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Gozzis musikalisches Märchen

"Turandot" – da denkt man an ein chinesisches Märchen oder an die Oper von Giacomo Puccini. Aber kaum einer weiß, welch lange Wege und Verwandlungsprozesse die Geschichte von der eiskalten, herzlosen und sadistischen Prinzessin zurücklegen musste.

Von Cornelie Ueding | 22.01.2012
    "Gozzis Werk ist tot. Die schmerzliche und ironische Silhouette des venezianischen Grafen, die zehn bunten leicht geschürzten Märchenstücke ..., mit denen er jahrzehntelang das Theater San Samuele in Venedig füllte, führen kaum noch ein blasses Schattendasein in den Literaturgeschichten. Man kennt ein paar armselige Daten und zwei, drei Titel. Man weiß vielleicht, dass er zur Verteidigung der untergehenden Commedia dell'Arte ... zum Dramatiker, aus einer literarischen Polemik gegen Chiari und Goldoni heraus zum Dichter wurde. Seine Tragik ist, dass trotz seiner Erfolge die Kunst der alten Masken unaufhaltsam verfiel."

    150 Jahre nach der Uraufführung von Carlo Gozzis "Turandot" am 22. Januar 1762 im Teatro San Samuele in Venedig spürte der kosmopolitische Kulturvermittler und Theaterreformer Karl Gustav Vollmoeller Gozzis Urfassung in den Venezianischen Archiven wieder auf. Er machte sie zur Grundlage einer eigenen Turandot-Fassung und musste dem Publikum im Programmheft bereits erklären, wer Gozzi überhaupt war.
    Das Märchen von der bezaubernd schönen, aber eiskalten, männermordenden Prinzessin Turandot spielt im fernen China:

    "Sag, war's nicht so: Der Vater sollte einen Aufruf rings erlassen, ein jeder Prinz sei frei als Werber anzutreten. Doch unter der Bedingung nur, dass die Prinzessin ... ihm drei Rätselfragen stelle ... Doch löste er nur eines ihrer Rätsel nicht, so habe Kaiser Altum heilig zugeschworen, jenem Unbesonnenen den Kopf zur Strafe abzuschlagen."

    Bis Gozzi den Stoff aufgriff, hatte der schon eine 500-jährige Wanderschaft durch den orientalischen Raum hinter sich. Im Erzählgeflecht von Märchensammlungen wie "Tausendundeine Nacht" gewann er in Europa schnell an Popularität und löste eine ganze Kettenreaktion von Adaptionen, Übersetzungen und Vertonungen aus.
    Gozzi wollte die märchenhaften Elemente in Bühnenzauber verwandelt wissen. Er stellte das Unwahrscheinliche, Wunderbare gegen die ausgenüchterte Bühne des aufgeklärten 18. Jahrhunderts. Dem Unwahrscheinlichen gab er den Anschein von Wahrheit und wollte so, auf unterhaltsame Weise, das Bewusstsein für die Differenz zwischen dem Wahren und dem, was man dafür halten soll, wecken.
    Es geschieht mit der Unbedingtheit des Märchens: ein Blick auf das Porträt der bezaubernden Turandot genügt, und der skeptische Kalaf erglüht in Liebe und verliert buchstäblich den Kopf und den Sinn für die Realität.

    "Dank dem Geschick, das mir dies Bildnis in die Hand gespielt. Dies ist der Augenblick, das Glück zu wagen. Und ich will das schönste Weib der Welt, mit ihr das große Reich, … die Rätsel lösend wie mit einem Schlag gewinnen. Wo nicht, bin ich bereit, mein unglückseliges Leben, wie eine Last, die ich nicht mehr ertragen mag, mit einem Schlag zu lassen."

    Auch Friedrich Schiller wird sich auf der Suche nach Stücken für das Weimarer Hoftheater in die spröden, hinterhältigen Intrigen verlieben und Gozzis Märchenspiel überarbeiten, verschärft um die Nuance, dass Kalaf, ein Prinz incognito, wenn er die drei Rätsel der Prinzessin gelöst hat, die immer noch Widerstrebende nun seinerseits nötigt, zu erraten, wer er eigentlich ist. Eine Wendung, der über 100 Jahre später die Musik Giaccomo Puccinis unvergleichlichen Ausdruck verlieh.

    Sowohl Ferruccio Busonis wie Puccinis Turandot-Oper verdanken sich Vollmoellers Mittlerrolle. Der war fasziniert von der räumlichen Entwicklung und dem Perspektivenwechsel der Handlung bei Gozzi: der Weg von außen, von der Stadtmauer, ins Innere des Palasts und wieder zurück in die Öffentlichkeit. Und es war auch Vollmoeller, der den Regisseur Max Reinhardt dafür gewinnen konnte, bei seiner Bühnen-Version der Turandot mit einem solchen Großraumkonzept zu experimentieren. Mit überwältigendem Erfolg in ganz Europa. So lernte auch Puccini den Stoff kennen. Und in seiner letzten Oper erfährt die sadistische Geschichte eine zusätzliche Dimension: aus Hochmut wird Lebensangst.

    Alle, die sich auf Turandot einlassen, werden zu Grenzgängern zwischen Albtraum und Wirklichkeit. Erst die Moderne, Bert Brecht und vor allem Wolfgang Hildesheimer, holen den Stoff in durchaus kritischer Absicht auf die Erde zurück und aus dem Traumprinzen werden, bestenfalls, politische Strategen oder charmante Hochstapler, die Turandot benutzen oder sie endlich aus ihrem goldenen Eiskäfig befreien.