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Halil Gülbeyaz: Mustafa Kemal Atatürk. Vom Staatsgründer zum Mythos

Mustapha Kemal, genannt Atatürk: Der tapfere Soldat, der große Reformer, der unsterbliche Führer, der "Vater der Türken". So sah er sich selbst. Mustapha Kemal – seit 65 Jahren tot, lebt bis heute fort; in der Türkei ist er allgegenwärtig: keine Amtsstube, keine Bank, in der sein Portrait nicht wie selbstverständlich von den Wänden herabblickte, keine Stadt und kein Dorf, wo seine Denkmäler und Zitate nicht die Plätze zierten. Unzählige Biographien sind bereits über ihn erschienen. Nun eine weitere: "Mustafa Kemal Atatürk - Vom Staatsgründer zum Mythos" lautet der Titel des Buches, das Halil Gülbeyaz vorgelegt hat.

Susanne El Khafif | 14.07.2003
    Ja, Atatürk bedeutet Staatsgründer, ein großer Revisionär, ein großer Reformator. Er ist wie ein Religionsstifter, der zugleich auch einen Staat gegründet hat, wie Muhammad, wie Moses, er hat die westliche Ideologie richtig in die Türkei gebracht und über diese Ideologie eine zeitgenössische Republik gegründet.

    Ahmet Mumcu, Verfassungsrechtler und Jura-Professor führt durch das Museum der Baskent Universität in Ankara. Das Museum liegt auf einer Anhöhe, oberhalb der Hochschule, mit weitem Blick über die Stadt, die Mustafa Kemal zu seiner Hauptstadt machte. Das Gebäude ist der originalgetreue Nachbau eines der Wohnhäuser Mustafa Kemals: Drei Etagen, Holzböden, an den Wänden: Photos, in den Glasvitrinen: Schriftstücke, Kleidungsstücke, Kaffeetassen. Reliquien, die das Erinnern an den 'Vater der Türken' leichtmachen sollen.

    Das ist allein genug für seine Würdigung, geschweige denn, dass er das Land nach dem ersten Weltkrieg vor dem Abgrund gerettet hat. Das sind natürlich ganz wichtige Sachen, für uns wichtig, weil er noch immer lebt, das merken Sie wahrscheinlich, wenn Sie in der Türkei sind...

    Mustapha Kemal also, der tapfere Soldat, der große Reformer, der unsterbliche Führer ...

    Es ist einer der kältesten Winter seit Jahren, in dem der 'Vater' der modernen Türkei, Mustafa Kemal, genannt 'Atatürk' in der damals osmanischen Küstenstadt Selanik, heute Saloniki, auf die Welt kommt. Seine Mutter Zübeyde sagt später in einem Interview, dass sie ihren Sohn im Alter von 20 auf die Welt gebracht habe. Sie wisse jedoch nicht, ob es sich um das Jahr 1880 oder 1881 handele...

    Mit diesen Worten beginnt Halil Gülbeyaz das erste Kapitel seiner Biographie, in der er Leben und Schaffen Mustapha Kemals nachzeichnet: Geburt, Kindheit und Schulzeit, die Ausbildung zum Soldaten, Mustapha Kemal als militärischer Führer und Bezwinger der Besatzungsmächte, Mustapha Kemal als Politiker und Begründer der modernen Türkei. Halil Gülbeyaz bedient sich vieler Zitate, lässt dadurch eine Persönlichkeit auferstehen, die so schillernd wie ambivalent ist: Es ist der tapfere Soldat und der kühle Stratege, es ist der phantastische Visionär und der pragmatische Staatsmann, der aus den Zitaten spricht – doch zugleich ist es auch das unangenehme Kind, das nie verlieren kann, der soziale Außenseiter, der Profilneurotiker, der Größenwahnsinnige, der Tyrann. Der Widerstände grausam und blutig niederschlug, Widerstände von Kurden, von Armeniern, selbst von einstigen politischen Freunden. Nur um eines Zieles willen: Mustapha Kemal wollte den totalen Bruch mit der Vergangenheit, er wollte eine türkische Republik. Ganz nach europäischem Vorbild. - Am 10. November 1938 stirbt Mustapha Kemal im Alter von nur 57 Jahren. Die Ärzte konstatieren – viel zu spät: Leberzirrhose. Der türkische Anisschnaps Raki war ihm zum Verhängnis geworden.

    Leider musste ich ihn trinken. Denn mein Kopf arbeitete so sehr, dass ich ihn von Zeit zu Zeit betäuben und beruhigen musste. Auch jetzt ist es so. (...) Wenn ich nicht trinke, kann ich nicht schlafen und werde von diesen Qualen erdrückt.

    "Mustafa Kemal Atatürk – Vom Staatsgründer zum Mythos" – das Buch von Halil Gülbeyaz ist eines von vielen, angeblich eines von vielen Tausenden, die sich bereits dem Thema gewidmet haben. - Es ist dennoch interessant und äußerst lesenswert. Denn Halil Gülbeyaz gelingt es, das Denkmal Mustapha Kemal von seinem Sockel zu holen, ohne es zu stürzen; er benennt den Mythos 'Atatürk', ohne den Mythos einer Wertung zu unterziehen. Er überläßt es dem Leser, sich ein eigenes Urteil zu bilden, zu entscheiden, ob Mustapha Kemal nun den Namen 'Vater der Türken' verdient oder nicht. Halil Gülbeyaz hält sich zurück, wählt eine Form, die das möglich macht: Der Autor bedient sich einer einfachen, sachlichen Sprache, die fast schon ein wenig trocken wirkt. Er trennt – bis auf wenige Ausnahmen – sauber zwischen den Ebenen, zwischen der eigenen objektiven Darstellung und der subjektiven Wahrnehmung Mustapha Kemals. Eindeutig und nachprüfbar ist auch das inhaltliche Gerüst, an dem der Autor sich entlangbewegt: Es sind Jahreszahlen, mit deren Hilfe er türkische Geschichte nacherzählt: Der Untergang des Osmanischen Reiches, der Erste Weltkrieg, der Kampf um die Unabhängigkeit, die Entstehung der türkischen Republik. Die Nacherzählung ist genau, das Buch erinnert daher anfangs mehr an ein Geschichtsbuch als an eine herkömmliche Biographie – es ist zudem angereichert mit Zeittafeln, Kartenmaterial und Photos. Doch die Entscheidung für ein solches inhaltliches Gerüst ist sinnvoll: Gülbeyaz bettet die einzelnen Lebensstationen Mustapha Kemals in den Ablauf der historischen Ereignisse; er verflicht beide 'Geschichten' immer mehr miteinander – bis, ja bis es am Ende nur noch eine ist: eine Geschichte.

    Die Männer, die diese Nacht gestorben sind, wollten mich von dem trennen, was der einzige Inhalt meines Lebens ist: dem türkischen Volk.

    Mustapha Kemal 1926 nach einem fehlgeschlagenen Attentatsversuch vor der türkischen Nationalversammlung:

    Ich bin die Türkei. Mich vernichten wollen, bedeutet: die Türkei selbst vernichten wollen. Sie atmet nur durch mich, und ich lebe nur durch sie.

    Mustapha Kemal – noch zu Anfang den Umständen, die mit dem Untergang des Osmanischen Reiches einhergingen, ausgesetzt - nimmt mehr und mehr nicht nur sein Schicksal, sondern auch das seines Landes in die eigene Hand. Am Ende ist er es, der Geschichte macht.

    Ich werde mein Volk an der Hand führen, bis seine Schritte sicher sind und bis es seinen Weg kennt. Dann wird es seinen Führer frei wählen, und sich selbst regieren können. Dann wird mein Volk vollendet sein, und ich werde mich zurückziehen können. Aber vorher nicht.

    Das Buch zieht – in dem Maße wie die türkische Geschichte an Dramatik gewinnt - immer mehr in seinen Bann. Denn je dramatischer die Geschehnisse, desto schwieriger die Herausforderungen, die sich der Hauptfigur stellen. Und umso größer letztlich das Interesse an der Auflösung dieser 'einen' Geschichte. Gerade für ein deutsches Publikum dürfte das Buch von Interesse sein. Halil Gülbeyaz vermag den historischen Blick zu weiten: Er vermittelt detaillierte Kenntnisse über das Osmanische Reich und über die Entstehung der türkischen Republik, Kenntnisse, die gerade heute – im Zuge der deutschen Diskussion um eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union – von Bedeutung sind. Er lässt dabei Geschichte einmal 'andersherum' betrachten, aus türkischer Sicht - unter Verwendung von Zitaten, die überwiegend türkischen Quellen entstammen.

    "Mustafa Kemal Atatürk – Vom Staatsgründer zum Mythos" – das Buch ist – trotz kleiner Schwächen - interessant und äußerst lesenswert. Anders als es viele Museen tun, errichtet der Autor eben keinen Reliquienschrein, er trägt vielmehr Fakten und Zitate zusammen und präsentiert beides einordend. Vielleicht aber macht er Mustapha Kemal gerade dadurch zu einem Denkmal. Im eigentlichen Sinne. Der Leser wird angehalten, über die so schillernde wie ambivalente Persönlichkeit Mustapha Kemals 'nach-zu-denken'. Womit dessen – womöglich - größter Wunsch in Erfüllung ginge:

    Ich wäre lieber einer, der nie vergessen wird, andernfalls zöge ich es vor, erst gar nicht geboren worden zu sein.

    Mit diesem Zitat endet die Biographie, der Titel: "Mustafa Kemal Atatürk. Vom Staatsgründer zum Mythos." Susanne El Khafif hat das Buch für uns besprochen. Erschienen ist es im Parthas Verlag Berlin. 256 Seiten kosten 28 Euro.