Sonntag, 28. April 2024

Archiv


Heiliger Ort mit politischer Bedeutung

Die sogenannte kleine Klagemauer in Jerusalem wird vor allem von streng religiösen Juden für sich beansprucht. Das Besondere: Die an der großen Klagemauer übliche Geschlechtertrennung herrscht hier nicht.

Von Thomas Migge | 08.03.2013
    Anders als die große Klagemauer in Jerusalem liegt die "kleine Klagemauer", hebräisch Kotel HaKatan, in einer schmalen Gasse im muslimischen Viertel der Jerusalemer Altstadt. Weil dieser kleinere Teil der Westmauer näher an der Stelle des Allerheiligsten des ehemaligen jüdischen Tempels liegt, ist er für einige Gruppen streng religiöser Juden von besonderer Bedeutung, denn sie möchten möglichst nahe am heiligsten Ort ihre Religion beten. Aber die kleine Klagemauer hat inzwischen auch eine politische Bedeutung bekommen.

    Beim Beten an der Klagemauer wird streng auf Geschlechtertrennung geachtet. Auf der rechten Seite die Frauen und links, hinter einer Mauer, die Männer. Betreten darf man dieses für die Juden heilige Gebiet innerhalb Jerusalems als Mann nur mit einer Kopfbedeckung. Ein Nichtjude kann sich am Eingang eine Kippa aus Papier ausleihen. An der kleinen Klagemauer hingegen achtet niemand auf die Trennung der Geschlechter.

    Die Ha-Gay-Straße, die von den Muslimen El-Wad genannt wird, und die – fast direkt – den Platz der Klagemauer im Süden mit dem Damaskus-Tor im Norden verbindet, durchquert das muslimische Viertel. Niemand würde hier die so genannte kleine Klagemauer "Kotel Hakatan" vermuten. Sie ist durch einen Torbogen am Ende einer schmalen Sackgasse mit uralten Häusern zu erreichen. Der Archäologe Dan Bahat gräbt seit über 20 Jahren in Jerusalem:

    "Kotel Hakatan ist Teil der Westmauer des ehemaligen jüdischen Tempels. Die bekannte Klagemauer macht ungefähr ein Neuntel der gesamten Westmauer aus. Die Steine dieser Mauer ließ König Herodes aufschichten. 70 nach Christus wurde sie von den Römern zerstört und erst viele Jahrhunderte später unter muslimischer Herrschaft wieder aufgebaut."

    Die kleine Mauer ist mit Wohngebäuden aus dem zwölften und 13. Jahrhundert aus der Zeit der Mamelucken umstellt. Vor der großen Mauer hat man diese Gebäude bereits im letzten Jahrhundert abgerissen, um den jüdischen Gläubigen den Zugang zur Mauer zu erleichtern. Bei der kleinen Mauer bekommt der Besucher also einen Eindruck davon, wie eng einst die Wohnhäuser an der Klagemauer gestanden haben. Dan Bahat:

    "Der älteste sichtbare Teil der kleinen Mauer stammt aus der Zeit der Omayyaden, die in der Mitte des ersten nachchristlichen Jahrtausends zeitweise auch Jerusalem beherrschten und die Tempelmauern restaurierten, um darauf eine Moschee zu errichten. An der kleinen Klagemauer wurde vor der Zeit des Ersten Weltkriegs nicht gebetet. Erst in der Zeit des britischen Mandats begannen Juden, diesen Teil der Mauer zu verehren."

    Das Mandat über Jerusalem und Palästina wurde den Briten 1920 vom Völkerbund übertragen und dauerte bis 1948, bis zur Gründung des Staates Israel. 1939 schränkten die Briten die Zuwanderung von Juden aus Europa nach Palästina drastisch ein. Das hatte zur Folge, dass die Hagana, eine paramilitärische Organisation der Juden, die Briten bekämpfte. Es kam zu zahlreichen Toten unter den Mandatssoldaten. Dan Bahat ist davon überzeugt, dass der Beginn der Verehrung des kleinen Mauerabschnitts im muslimischen Viertel ausgerechnet in jene Zeit fällt, weil sich viele Juden nicht nur von den Briten, sondern gleich auch von den Arabern befreien wollten.

    Pawel Maciejko, Dozent für jüdische Kultur an der Hebrew University in Jerusalem, erklärt sich die erste späte Verehrung des Mauerabschnitts im muslimischen Viertel mit dem Versuch ultrakonservativer Juden, sich auch diesen Teil der Altstadt anzueignen:

    "Das sind Juden, die sich mit der Tatsache, dass sie nicht auf den Tempelberg dürfen, nicht abfinden können und so nach Möglichkeiten suchen, wenigstens die Mauern für sich zu beanspruchen. Radikal orthodoxe Juden, die allerdings ein präzises politisches Ziel verfolgen: die Vertreibung der Muslime aus ihrem Viertel in der Altstadt, weil diese Juden in messianischer Erwartung den Ort als den ihren erklären."

    Pawel Maciejko ist davon überzeugt, dass es sich nur um kleine Gruppen von Juden handelt, die allerdings sehr radikal auftreten und die Vertreibung der Muslimen aus der Altstadt zum Ziel haben.

    "Das ist eine politische Bewegung, die behauptet, dass ganz Jerusalem jüdisch ist. Und sie schreiben der gesamten Mauer etwas Sakrales zu, was sie für andere Juden, auch andere orthodoxe Juden, nicht unbedingt besitzt. Das sind Juden, die den politischen israelisch-palästinensischen Konflikt in einen religiösen Kampf zwischen Judentum und Islam verwandeln wollen. Um ihren Besitzanspruch auf die ganze Altstadt zu untermauern, erfinden sie auch Traditionen."

    Mehr auf dradio.de:

    Geschlechterkampf in Israel -
    Wie Frauen im öffentlichen Leben benachteiligt werden
    Eine vormoderne Welt -
    In Israel wächst der Einfluss der Ultraorthodoxen