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Held seiner eigenen Philosophie

Als der Philosoph Jean-Jaques Rousseau an einem Tag im August des Jahres 1749 von Paris nach Vincennes wandert, fasst er einen Entschluss, dessen Tragweite er beim besten willen nicht vorhersehen kann. Jedes Jahr vergibt die Akademie von Dijon einen Preis für die beste moralische Abhandlung. Er wird sich bewerben.

von Simone Hamm | 30.07.2005
    Als der Philosoph Jean-Jaques Rousseau an einem Tag im August des Jahres 1749 von Paris nach Vincennes wandert, fasst er einen Entschluss, dessen Tragweite er beim besten willen nicht vorhersehen kann. Jedes Jahr vergibt die Akademie von Dijon einen Preis für die beste moralische Abhandlung. Er wird sich bewerben. Und das Preis- Thema für 1950 lautet:

    "Hat der Fortschritt der Wissenschaften und Künste zur Verderbnis oder zur Veredelung der Sitten beigetragen?"

    Er wusste wohl, wie die Aufklärer diese Frage beantworten werden: mit einem lauten Ja. Alle Teilnehmer würden das Hohe Lied auf den Fortschritt singen.

    Mit einem Schlag, so wird er sich später erinnern, war er wie berauscht, wie betrunken. Er wird die Frage beantworten, wie kein anderer sie beantworten wird. Er wird die glückliche Unwissenheit loben und die niedrigen Beweggründe der wissenschaftlichen Forschung anprangern. Er wird schreiben, dass der Mensch von Natur aus gut und erst durch die Zivilisation verdorben sei.

    "Ganz entgegen dem Zeitgeist verherrlicht Jena- Jacques die schlichte Einfalt und Frömmigkeit der Vorfahren, die Besitzlosigkeit und Bedürfnislosigkeit vergangener Völker und gegenwärtiger Wilder, ohne jedoch eine Rückkehr zu diesen Lebensformen für möglich zu halten."

    Jean Jacques Rousseau wird der Preis der Akademie von Dijon zugesprochen. Die Erleuchtung auf dem Weg nach Vincennes hat Monika Pelz ins Zentrum ihrer Rousseau Biografie gestellt. "Der hellwache Träumer" lautet der Titel der Lebensgeschichte des Jean- Jacques Rousseau. Ob er wirklich eine Erleuchtung gehabt hat, zweifelt Monika Pelz an, sie glaubt viel eher, er sei dem Rat Dennis Diderots gefolgt. Der habe ihm gesagt, wenn er den Preis gewinnen wolle, müsse er gegen den Trend schreiben.

    Voltaire war geistreichere, Didereot der bessere Schriftsteller, Kant der bedeutendere Philosoph. Dennoch hat Rousseau eine viel weit reichendere Bedeutung gehabt. Bis heute, wie Monika Pelz erläutert:

    "Während die anderen Aufklärer, Voltaire, Diderot sich eigentlich die völlige Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz sich nicht einmal vorstellen konnten und wollten, war Rousseau unter den namhaften Philosophen der einzige, der gesagt hat, ohne die völlige Gleichheit der Menschen geht es nicht. Er ist viel weiter gegangen als alle andern. Das ist die Bedeutung Rousseaus und damit hat er natürlich eine ungeheuer langfristige Wirkung gehabt, die ein Voltaire z.B. niemals hatte."

    Das war ungeheuerlich. Ein König und ein Bettelmann sollten vor Gericht gleichbehandelt werden? Mann und Frau hätten dieselbe Stellung? Doch Rousseau ging noch weiter.

    Dem Gemeinwillen des Volkes, solle der Wille des Einzelnen untergeordnet werden. Wenn jemand aus dem Volk sich gegen den allgemeinen Willen stellt, sei es sogar gerechtfertigt, ihn zu töten. Während der französischen Revolution wird dieser "Gemeinwille" blutig in die Tat umgesetzt. Robespierre ist Rousseaus glühender Verehrer.
    Rousseau ist Zeit seines Lebens ein Paria gewesen. Sohn eines Uhrmachers, aufgewachsen bei einem Onkel, der seinen eigenen Sohn gnadenlos vorzieht, Lehrling bei einem brutalen Gravurmeister, der ihn schlägt und ihn hungern lässt, Lakai bei Landadeligen, hat er doch das Glück, dass seine hohe Intelligenz immer wieder auffällt und er reiche Gönner findet, die ihm Bildung vermitteln. Aber wirklich dazugehört er nie. In jedem seiner Werke schimmern diese Erfahrungen durch, wie Monika Pelz in ihrer Rousseau Biografie erläutert:

    "Die selbst erlittenen Entbehrungen und Demütigungen, die eigene Erfahrung der Selbstentfremdung – er ist ja nur das, was er in den Augen der anderen ist, den Meinungen aller ist er ausgeliefert – verleihen seinen Worten ihre große Kraft und Eindringlichkeit. Die übrigen Philosophen haben die Zusammenhänge nur gedacht, er aber hat sie erlebt und gefühlt!"
    Monika Pelz:
    "Auch das war etwas sehr Neuartiges an Rousseau, dass er sich selbst als Helden seiner Philosophie gesehen hat. Es war zugleich anmaßend und sehr geschickt, weil er dadurch eine Identifikationsfigur geschaffen hat. Die Leser haben ihm mehr geglaubt. Während viele andere, etwa Voltaire für Zyniker gehalten wurden, hat die breite Masse der Rousseau Leser wirklich geglaubt, was Rousseau gepredigt hat. Vielleicht gibt es Analogien zu den biblischen Propheten, die eben auch durch ein besonders frommes oder asketisches Leben ihre Überzeugungen gelebt haben. Von seinen Zeitgenossen gab es keinen."

    Rousseau lebt seine Philosophie. Er ist der Gelehrte, der in einem Leben in der Natur die größte Erfüllung findet. Er ist der Ehrliche, Bescheidene, der Einsame. Aber er verkehrte doch in Salons, ließ sich feiern. Wie war das also mit seiner Einsamkeit?

    Monika Pelz:
    "Seine Auffassung von Einsamkeit ist eine eher seltsame. Aber vielleicht muss man das im Gegensatz zu den Usancen der damaligen Gesellschaft sehen, die ja praktisch immer, jede Sekunde Zerstreuung brauchten. Also die besitzenden Klassen natürlich, die sich das leisten konnten. Es war eine unablässige Sucht nach Zerstreuung und Abwechslung und eben eine Dauerpräsenz auch. Es ging von oben nach unten – also vom Herrscher, er sogar in seinem Bett nicht Ruhe finden und allein sein konnte und durfte – Sie wissen vielleicht Marie Antoinette hatte auch bei der Geburt Zuschauer, bei der Geburt ihres ersten Kindes. Das war so eine völlige Ausgesetztheit der Menschen damals, dass offenbar damit verglichen sich der Rousseau als sehr zurückgezogen erlebt hat. Aber er war es natürlich nicht und er hat vor allem eines benötigt, Applaus, also ständige Zuhörerschaft und Applaus, oder zumindest Echo."

    Das Leben des asketischen Gelehrten, das ist seine Rolle. Und er spielt sie mit Bravour. Die vornehmen Adelsgesellschaft himmelt ihn an, die Philosophen um ihn herum beneiden ihn.

    Monika Pelz
    "Ich musste mich natürlich als Jugendbuchautorin immer sehr um Relevanz für die heutigen Generationen bzw. Identifikationsmöglichkeiten kümmern und ich hab’ da eine Identifikationsmöglichkeit gesehen, insofern als heutige Superstars - und Rousseau war zu seiner Zeit zweifellos ein Superstar - ja auch sich selbst eine Rolle zulegen, die sie dann perfekt spielen oder bei der die Medien mitspielen. Das war eben beim Rousseau auch der Fall. Er ist also völlig in seiner Rolle aufgegangen und ist dann auch von dieser Rolle mehr und mehr erdrückt worden. Er konnte sich dann nicht mehr daraus befreien. Das bringt vielleicht eine Analogie zu heutigen Stars."

    Denn auch diesen fällt es bisweilen schwer, die Rolle, die ihnen die Fans zugedacht haben auszufüllen, nämlich die des glücklichsten Hollywoodpaares, die des kompetentesten Politikers, des perfekten, sauberen Fernsehstars. Wer den Ansprüchen der Fans nicht mehr genügt, der kann tief fallen.

    Auch Rousseau ist alles andere als das, was seine Bewunderer in ihm sahen. Er verstrickt sich in Widersprüche. Monika Pelz verdeutlicht anschaulich, dass Rousseau Zeit seines Lebens immer zwischen allen Stühlen gesessen hat. Er liebt und propagiert die Einsamkeit, geht aber in die so verhassten Salons. Er kämpft gegen die Privilegien des Hochadels, nimmt aber Verehrung und Unterstützung des Hochadels nur allzu gern an. Und dann schreibt er seinen berühmten Erziehungsroman Emile.

    "Der Wert des Menschen bemisst sich für Rousseau nicht an seiner Funktion oder Wichtigkeit für die Gesellschaft, sondern an der Selbstverwirklichung der Seele, ‚Leben ist der Beruf, den ich Emile lehren will.’"

    Der Skandal war perfekt. Denn der Mann, der so wunderbar über Erziehung schreiben konnte, hatte alle seine eigenen Kinder weggegeben, als sie noch ganz klein waren. Da stimmten Leben und Philosophie plötzlich nicht mehr überein:
    Monika Pelz:
    ""Es sind unheimlich viele Kinder fort gegeben worden und nicht bei den Eltern aufgewachsen. Auf der anderen Seite war gerade der Kreis um Rousseau, der neue bürgerliche Tugenden propagiert hatte: Die sollten nicht so sein wie die Adeligen, denen die Aufzucht der Kinder egal war, so dass sie es jemand anderem überlassen haben, sondern die sollten sich persönlich um ihre Kinder kümmern. Und der eigentliche Skandal war natürlich, dass er das propagiert hat und selbst ganz anders gehandelt hat. Das hat man ihm zum Vorwurf gemacht. Hätte er sich nicht so eingesetzt für die bürgerlichen Tugenden, z.B. im Emile, dann wäre das nicht so ein Aufschrei gewesen. Weil es haben ja ursprünglich viele von seinen Bekannten gewusst, er hat das ganz freimütig erzählt und es hat niemand skandalisiert. Erst nach dem Erscheinen des Emile und nachdem er damit eben Erfolg gehabt hat, wurde das natürlich zum Skandal."

    Rousseaus Stern sinkt. Da legt er sich auch noch mit der Kirche an. Einst war er zum Katholizismus konvertiert, doch mehr und mehr wird er zum Freidenker:

    Monika Pelz:
    "Rousseau hat eine religiöse Auffassung vertreten, wie sie eigentlich viele Intellektuelle seinerzeit vertreten haben, nämlich wohl an Gott zu glauben und sich als fromm zu betrachten und als gläubig, an die Unsterblichkeit der Seele z.B., aber nicht als Offenbarungsreligion, also nicht an die Religion der Katholiken, der Juden, der Mohammedaner. Da war natürlich die Kirche alarmiert."

    Der Graveurlehrling wollte immer ein Intellektueller sein, ein Philosoph, ein Dichter, einer, dem die Damen zu Füssen liegen. Er wollte Ruhm und Anerkennung. Das erreicht er. Dann treten die Kritiker auf den Plan. Mit Kritik kann er nicht umgehen. Er glaubt, er sei von Verschwörern umgeben. Er legt sich mit allen und jedem an. Längst hatte der Mythos Rousseau, hat die Kunstfigur sich verselbstständigt. Er zieht sich verbittert aufs Land zurück. 1778 stirbt er. Er ist eine schillernde Figur gewesen, alles andere als sympathisch: widersprüchlich, egomanisch. Wie geht die Biografin Monika Pelz damit um?

    "Ich hätte vielleicht vor 30,40 Jahren keine solche Biografie schreiben können und schon gar nicht als Jugendbuch. Aber es hat sich bei der Jugendbuchbiografie eine interessante Entwicklung vollzogen von den reinen Lichtgestalten hin zu den auch zweifelhaften Gestalten… ich glaub’, dass die Jugendlichen heute mehr Verständnis haben, weil ihre Helden in der Popkultur durchaus auch sehr zweifelhaft sein können, jetzt mein’ ich charakterlich."

    Monika Pelz ist es gelungen, junge Leute für diesen Verqueren Philosophen aus einer anderen Zeit zu interessieren, indem sie immer wieder Bezüge herstellt zur Gegenwart, etwa zu Diktatoren wie Stalin, die sich auf ihn beriefen. Aber auch dadurch, dass sie das Bild eines Megastars entwirft, der an seinen eigenen Ansprüchen, an seiner von ihm selbst erschaffenen Rolle zerbricht.

    Monika Pelz: Der hellwache Träumer. Die Lebensgeschichte des Jean-Jacques Rousseau, Beltz & Gelberg, 316 Seiten.