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Im Bett mit Emilia Marty

Mit dem ersten Ton setzt Sylvain Cambreling das dunkel mächtige Schwungrad der Musik in Gang, eine unerbittlich leer laufende Orchestermaschine, ein Generator für Hochspannung, der hier das Kraftwerk Oper zu Außerordentlichem treibt.

Von Holger Noltze | 25.01.2004
    Ein aufgerauter, zugespitzter Ton, der nichts von den Kühnheiten Janaceks vorletzter Oper beschönigt, präzise Streicher, angeschärfte Bläser, ausgespielte Dissonanzen; ein Sinn für die vielen Kleinigkeiten und die intelligente Kleinteiligkeit dieser Musik, ihr Filmschnitthaftes, das sich dennoch zum großen Ganzen fügt: wie Cambreling die "Sache Makropulos" zu seiner macht, - zu einer Schlüssel-Sache der Musik der Moderne, ist ein Musterfall von Vergegenwärtigung, der jeden Zweifel, warum man dieses Stück über einen komplizierten Rechtsfall und eine Frau von 337 Jahren heute zeigen soll, beiseite fegt.

    Tatsächlich zählt die "Sache Makropulos" zu den vertrackteren Fällen von Oper: wie an der Tochter des Leibarztes Rudolfs II. ein lebensverlängerndes Elixier probiert wird, dessen Wirkung tatsächlich dreihundert Jahre anhält, bis ins Prag der 1920er Jahre. Wie diese Elina Makropulos unter vielen Namen und zuletzt als "Emilia Marty" weiter und weiter lebt, eine berühmte Sängerin, die nun, um in den Besitz des ihr Leben noch einmal verlängernden Dokuments zu kommen, sich in eine auch schon hundert Jahre dauernde Rechtssache einmischt, die uns, (wir befinden uns auch gleich in der Kanzlei eines Anwalts), in ihrer ganzen langen Umwegigkeit, vermittelt wird; diese Angelegenheit nun steht wie ein großer Paragraphenberg am Anfang und als Hürde vor dem, was Janacek an dem Theaterstück von Karel Capek so fasziniert haben muss, dass er davon trotz aller Komplikationen nicht lassen wollte. Was die verworrenen Familien- und Erbschaftsverhältnisse von Frau Makropulos-Marty angeht, wird man in Stuttgart auch nicht schlauer. Außerdem wird auf Tschechisch gesungen. "Die schönste Sprache der Welt", liest man da, wo in solchen Fällen normalerweise die Übertitel mit Übersetzung laufen; hier steht weiter: "keiner versteht sie, außer den Tschechen." Das ist wahr. Man versteht, so gut und idiomatisch hier auch gesungen wird, kein Wort, und das macht gar nichts.

    Hans Neuenfels befreit uns vom ganzen Opernführer-Quiproquo, er lässt Tschechisch eine wunderbar unverständliche Sprache sein, und greift zu gleich zwei der ältesten Kunstgriffe des so genannten Regietheaters: Theater auf dem Theater erstens (Akt zwei spielt ja schon auf einer Opern-Hinterbühne), und zweitens: Einführung der Figur des Komponisten; so handelt das Stück davon, wie es entsteht. Und kaum zu glauben: das geht gut.

    Wir sehen den Komponisten als alten Herrn in seiner Schreib- und Schlafstube. Immerzu schaut er auf die Uhr. Der Mann hat es eilig, denn seine Zeit wird knapp. Er schreibt eine Oper über ein Lebensverlängerungselixier, das Elixier aber ist das Werk selbst: das probateste Mittel zur Unsterblichkeit. So wird ihm seine Emilia Marty, die Sängerin, die seit dem 16. Jahrhundert unter verschiedenen Namen und Kostümierungen zu betören weiß, zur verdeckt allegorischen Figur: Die Schöpfung. L’opera. Das Werk. Die Oper. Wie Edgar Böhlke den Janacek spielt, stumm zwischen seinen Figuren, unter Einsatz ständig wuselnder, auch widerspenstiger ebenfalls stummer "Gedankenhelfer", immer eilig, besorgt, tragisch, komisch, das ironisiert Gott sei Dank die beliebte Denunziation des männlichen Schöpfers, der sich in der Frauenprojektion vor allem selbst verewigt, gleich mit. Denn am Ende fällt die Apotheose aus. Muse Marty nimmt ja nicht das Elixier, sondern einen letzten Whisky, dann haucht sie ihr Leben aus, weil es aber ein Bühnenleben ist, kommt sie am Ende vom Ende gleich wieder um die Ecke. Das Leben ist sinnlos, die Kunst auch, und trotzdem geht's immer weiter. Eva-Maria Westbroek, Emilia Marty, hat für das Schwebende, die Ambivalenzen, die Farbwechsel dieser schön uneindeutigen Deutung die genau richtigen Mittel:

    Eine kühle Hitchcockblondine im Zentrum einer Männerrunde, eine Figur, gemacht aus den Träumen von anderen Figuren. Wie sie entsteht, wie sie zum Kunst-Leben kommt, während die anderen mehr und mehr entseelt erscheinen, der Vampirismus der Verhältnisse ist das Kriminelle der Sache Makropulos.- Janacek soll mit seiner fatalen, zynischen Heldin Mitleid gehabt haben. Wie Neuenfels und Cambreling die Sache in Stuttgart neu verhandeln, fällt es einem wie Schuppen von den Augen.