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Im Schatten der Islamisten

Etwa zehn Monate lang war Timbuktu, im Norden Malis, von der islamistischen Gruppe Ansar Dine besetzt. Die Sharia wurde eingeführt, Schulbesuche für Mädchen verboten. Seit Ende Januar ist die Besatzung vorbei. Doch in den Köpfen der Menschen ist diese brutale Zeit immer noch präsent.

Von Katrin Gänsler | 22.05.2013
    In Sankoré, einem Stadtteil mitten in Timbuktu, diskutieren ein paar Frauen laut miteinander. Sie beklagen sich über die viel zu hohen Preise für Reis und Fleisch, loben den französischen Präsidenten François Hollande und fühlen sich von der Regierung in der fernen Hauptstadt Bamako im Stich gelassen. Es ist ein Gespräch, wie es jeden Tag unzählige Male in Mali geführt wird. Zehn Monate lang war das im Norden des Landes unmöglich.

    Als die islamistische Gruppierung Ansar Dine – übersetzt bedeutet das "Verfechter des Glaubens" – im April 2012 die Stadt am Rande der Sahara unter ihre Kontrolle brachte, legte sie den Alltag völlig lahm: Von einem Tag auf den anderen war es verboten, Partys zu feiern, Musik zu hören, Bier zu trinken, als Frau ohne Schleier auf die Straße zu gehen und erst recht, Kritik zu üben. Das ist zum Glück vorbei, sagt Diakité Fatalmoudou Idinane. Sie ist Schulleiterin in Timbuktu und hört den übrigen Frauen aufmerksam zu.

    "Gott sei Dank geht es wieder. Jetzt warten wir auf die Rückkehr der Verwaltung."

    Damit könnte langsam tatsächlich wieder der Alltag einziehen, auf den die Menschen in Timbuktu so sehnsüchtig warten. Dennoch: Die Erinnerung an die Herrschaft der Islamisten ist allgegenwärtig, auch bei Diakité Fatalmoudou Idinane:

    "Timbuktu war immer eine sehr religiöse Stadt. Doch diese Islamisten haben den Glauben ausgelegt, wie es ihnen passte. Das waren doch keine Muslime. Das waren doch Drogenhändler. Wir haben Kokain bei ihnen gesehen."

    Von einer "Besatzung" durch Ansar Dine spricht man in Timbuktu. Niemand wusste, wie man sich dagegen zur Wehr setzen sollte. Diakité Fatalmoudou Idinane:

    "In der Anfangszeit der Besatzung waren wir gezwungen, die Schulen zu schließen. Plötzlich haben sie entschieden, die Schulen wieder zu öffnen. Dabei haben sie uns aber ganz deutlich gesagt: Die Mädchen haben kein Recht mehr, eine Schule zu besuchen."

    Ausgerechnet Timbuktu! Die Stadt am Rande der Sahara galt über Jahrhunderte als das Zentrum des Islams in Afrika. Alleine die Universität Sankoré soll im 15. und 16. Jahrhundert 180 Koran-Gelehrte und bis zu 25.000 Studenten gehabt haben. Noch heute erinnern die uralten Lehmmoscheen und zehntausende Manuskripte über den Islam daran. Der nimmt auch heute noch eine dominierende Stellung in der Stadt ein, erklärt Abdramane Ben Essayouti. Er ist Timbuktus bekanntester Imam:

    "Hier in Timbuktu ist so gut wie jeder Muslim – 98 Prozent der Einwohner. Aber man muss anerkennen, dass wir tolerant sind. Neben den 98 oder vielleicht 99 Prozent Muslimen gibt es Katholiken, aber auch eine Baptisten-Kirche. Wir praktizieren unseren Glauben nebeneinander."

    Umso weniger versteht der Imam, warum sich Ansar Dine gerade in Timbuktu eingenistet hat und hier die Scharia besonders scharf auslegen wollte. Abdramane Ben Essayouti zuckt ratlos mit den Schultern:

    "Nur sie können diese Frage beantworten, nicht ich. Ich weiß es wirklich nicht."

    Stattdessen demonstriert Abdramane Ben Essayouti lieber selbst, wie tolerant er und seine Religion in Timbuktu sind. Wenn eine Frau ihn besuche, müsse sie ihre Haare nicht mehr unter einem Kopftuch verbergen. Nirgendwo in der Stadt ist das heute noch notwendig, im Gegenteil. Wohl auch deshalb heißt es jetzt in Hotels: Frisch gekühltes Bier erhältlich. Das soll zeigen: Der Islam in Timbuktu ist offen und unverkrampft und hat nichts mit dem zu tun, was die Islamisten eingeführt haben. In den Köpfen der Menschen sind die Islamisten aber immer noch präsent, bedauert Abdramane Ben Essayouti.

    "Die Menschen haben eine Psychose erlitten. Mit der neuen Strategie der Islamisten, diesen Kamikaze-Anschlägen, haben sie natürlich nun wieder Angst."

    Timbuktu gilt zwar seit Ende Januar als befreit. Damals eroberte das französische Militär die Stadt zurück. Im Zentrum und am Flughafen sind weiterhin Soldaten stationiert. Nachdem die Franzosen zu großen Teilen wieder abgezogen sind, sind es nun vor allem Malier und Burkinabè. Letztere sind im Rahmen des Militäreinsatzes der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS im Einsatz. Allerdings hat es in den vergangenen Wochen zwei Anschläge gegeben – gut vorbereitet und schnell ausgeführt. Damit haben die Dschihadisten bewiesen: Besiegt sind sie noch lange nicht – nur ihre Taktik hat sich geändert.

    Sidi Lamine Sidi Igoumo schließt seine Bibliothek auf. Von außen ist es ein unscheinbares Lehmhaus, doch hinter der Tür lagern uralte Manuskripte von unschätzbaren Werten. Sidi Lamine Sidi Igoumo nimmt eines in die Hand:

    "Dieses hier stammt aus dem Jahr 1807, das aus dem Jahr 1800. Mit diesen Manuskripten haben mir meine Eltern ein großes Geschenk hinterlassen. Aber dieses Buch hier habe ich selbst geschrieben, zusammen mit meinem Bruder."

    Das Buch ist viele hundert Seiten dick und fein säuberlich auf Arabisch mit der Hand geschrieben. Sidi Lamine Sidi Igoumo, der nicht nur kostbare Familien-Manuskripte verwahrt, sondern auch Islam-Gelehrter ist, beginnt, daraus vorzulesen. Noch viel lieber als das eigene Buch, das sich mit dem islamischen Recht beschäftigt, würde er die wirklich wertvollen Schätze zeigen. Doch das gehe nicht mehr, bedauert Sidi Lamine Sidi Igoumo:

    "Die Manuskripte gibt es noch. Doch als die Dschihadisten gekommen sind, haben sie begonnen, diese Schriften zu verbrennen. Jetzt sind sie an einem sicheren Ort. Ausstellen möchte ich sie aber nicht. Ich habe Angst, dass diese Islamisten doch wiederkommen und sie dann vielleicht verbrennen."

    Dass Anhänger von Ansar Dine oder anderer Gruppierungen Timbuktu ein zweites Mal besetzen, gilt zwar als unwahrscheinlich. Doch die Angst davor wird fürs Erste bleiben. Deshalb wünscht sich Sidi Lamine Sidi Igoumo eines mehr denn je:

    "Wir möchten wieder Frieden haben. Wir wollen keinen Kontakt zu den Islamisten. Als sie gekommen sind, haben sie eine islamische Stadt gefunden. Trotzdem mussten sie die Scharia einführen. Warum nur? Jetzt wollen wir wieder Frieden haben."