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Indirekte Zensur in der Türkei
"Es geht mehr ums Überleben als ums Leben"

Nach dem Putschversuch durchleben türkische Kulturschaffende schwere Zeiten. Indirekte staatliche Zensur und offene Anfeindungen seitens konservativer Kreise verengen kritische Gestaltungsräume zunehmend. Zahlreiche Festivals und Ausstellungen sind bereits abgesagt worden. Eine Berliner Podiumsdiskussion der „neue Gesellschaft für bildende Kunst e.V.“ versammelte Akteure.

Von Cornelius Wüllenkemper | 08.09.2016
    Tanzende Derwische
    Tanzende Derwische treten in der Tanzhalle des Mevlana Mausoleums in Konya in der Türkei auf. (dpa/ picture-alliance/ epa/ Kerim Okten)
    Beral Madra, die 76jährige Leiterin der renommierten Canakkale-Biennale, hatte unlängst in einem Interview deutliche Worte gefunden: Die Türkei sei derzeit von ethnischen, religiös fundamentalistischen und neokapitalistischen Ambitionen bedroht. Es gehe "in dieser Situation mehr ums Überleben als ums Leben", so Madra. Damit hat die angesehene Kulturmanagerin der Canakkale-Biennale den Todesstoß versetzt. Asena Günal, Direktorin des unabhängigen Kultur- und Kunstzentrums "Depot" im Herzen Istanbuls, erfuhr gestern erst kurz vor ihrer Ankunft in Berlin von der Absage:
    "Es begann damit, dass ein AKP-Abgeordneter die langjährige Kuratorin Beral Madra ins Visier nahm. Er forderte die Stadtverwaltung dazu auf, nicht weiter mit ihr zu arbeiten und beschuldigte sie, Präsident Erdogan angegriffen zu haben und zudem pro-kurdische Positionen zu vertreten. Es ist bereits wiederholt zu Zwischenfällen bezüglich vermeintlicher Präsidentenbeleidung gekommen, aber dass man automatisch pro-kurdisch ist, wenn man Erdogan kritisiert, das ist wirklich neu."
    Konservativer Umschwung
    Der eigentliche konservative Umschwung sei bereits nach den Protesten im Gezi-Park 2013 erfolgt, so Günal. Nach dem Putschversuch am 15. Juli hat sich das Klima in der türkischen Kulturszene aber noch einmal verschlechtert: Die Organisatoren der Sinop-Biennale am Schwarzen Meer traten zwei Tage später von selbst den Rückzug an, nachdem die Gouverneurin der Notstandsgesetzte in der Region ihren Posten verlor. Zuvor waren bereits das Jazzfestival Istanbul und die Kunstmesse ArtInternational abgesagt worden. Von konkreter staatlicher Zensur ist bei solchen Entscheidungen selten die Rede, eher von Drangsalierung durch konservative Kreise und Schikanierung seitens der Ordnungsbehörden. Die Gemengelage ist auch für direkt Beteiligte bisher schwierig zu überblicken, meint Asena Günal:
    "Vor wenigen Jahren noch galt Istanbul international als eine Kreativmetropole. Dann erlebten wir Terrorangriffe, die Beschneidung der Rede- und Kunstfreiheit, wachsende Intoleranz und einen versuchten Militärputsch. All das hat ein Gefühl der Angst und der Isolation befördert.
    Besonders für Künstler, die für ihre Arbeit Freiräume benötigen, wird die Situation immer schwieriger, denn diese Räume werden immer enger. Istanbul war bisher eine Drehscheibe für internationale Kuratoren, Künstler oder Kunstkritiker, die uns besucht haben, um den Austausch zu suchen. Von denen haben wir in diesem Jahr kaum jemanden mehr gesehen."
    Gewalt gegen Betreiber und Besucher von Kunstgalerien
    Der türkische Kunstkritiker und Autor Erden Kosova berichtete in der Diskussionsveranstaltung über gewalttätige Angriffe auf Betreiber von Kunstgalerien und deren Besucher. Auch private Geldgeber, eine äußerst wichtige Stütze der türkischen Kulturszene, schrecken vor kritischen politischen Positionen zurück, meint Erden Kosova. Es herrsche Angst vor willkürlichen Verhaftungen als Folge des Putschversuchs:
    "Unter den Akademikern, die sich für die Wiederaufnahme des Friedensprozesses mit den Kurden einsetzen, sind mehrere Kunstprofessoren, die bereits ihren Posten verloren haben oder davon bedroht sind, darunter namhafte Mitglieder der Kunstakademie Istanbul. Natürlich kann man sich die Frage stellen, wie die Kunstszene auf derartige Eingriffe reagiert. Leider ist es bisher nicht gelungen, einen geeinten Widerstand dagegen zu organisieren, aus welchen Gründen auch immer. "

    Ein neuer Gesetzesvorschlag im türkischen Parlament bereitet jetzt die Privatisierung von staatlichen Theatern, Opern und Kulturzentren vor. Viele Kulturschaffende befürchten, dass der Putschversuch dazu genutzt wird, die Schaffung eines seit Jahren diskutierten Unabhängigen Kulturrats durch diese Privatisierungen abzuwenden. Für Kunst, die sich nicht im Sinne der Staatspolitik instrumentalisieren lässt, ist in der Türkei immer weniger Platz.