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Irrwege durch Kristiania

Ein junger Autor irrt durch Kristiania, vom Hunger getrieben, nervös und überempfindlich, stolz und verzweifelt. Knut Hamsuns Roman "Hunger" - eine psychologische Studie, die den Weltruhm des norwegischen Autors begründete - ist neu beim Claassen Verlag und als Hörbuch erschienen.

Von Arnold Thünker | 02.08.2009
    "Hunger", der Roman, der für den damals 30-jährigen norwegischen Autor Knut Hamsun den literarischen Durchbruch bedeutete, ist ein Klassiker der Weltliteratur. Anlässlich des 150. Geburtstages des Nobelpreisträgers ist im Claassen Verlag eine überarbeitete Übersetzung von Siegfried Weibel aus dem Jahr 1997 erschienen.

    Die originalen Textpassagen stammen von der legendären Aufnahme Oscar Werners aus dem Jahre 1961 und sind bei Hörbuch Hamburg neu erschienen.

    Knut Hamsun gehört zu den Begründern der literarischen Moderne. Modern ist das Schlüsselwort, das Kritiker damals wie heute benutzen, wenn sie von "Hunger" sprechen. Diese zivilisationskritische Prosa begeisterte und beeinflusste weltweit Autoren von Thomas Mann bis Henry Miller. Auch für Daniel Kehlmann, der ein Nachwort zu dieser Ausgabe schrieb, ist es ein unverzichtbares Werk.

    "Es war zu jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verlässt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist."

    Mit diesem eindringlichen und oft zitierten Satz beginnt der 1890 erstmals erschiene Roman. Ein junger Mann mit schriftstellerischen Ambitionen irrt durch die Straßen Kristianias, dem heutigen Oslo.

    Um nicht ganz seinem Hunger zu erliegen, versucht er, sich durch Artikel für Zeitungen, die nur selten angenommen werden, über Wasser zu halten. Immer öfter geht er ins Pfandhaus und versetzt Stück für Stück sein letztes Hab und Gut. Zum Betteln ist er zu stolz, lieber nimmt er den Hunger auf sich, der ihn zusehends in die geistige Verwirrung treibt.

    Wie gleichförmig und regelmäßig war es die ganze Zeit mit mir abwärtsgegangen! Ich stand zuletzt so sonderbar entblößt von allem Möglichen da, ich hatte nicht einmal einen Kamm - hatte kein Buch mehr, um darin zu lesen, wenn mir traurig zumute wurde. Den ganzen Sommer über war ich auf die Kirchhöfe hinausgegangen oder hinauf in den Schlosspark, wo ich mich dann hinsetzte und Artikel für die Zeitungen verfasste, Spalte auf Spalte, über die verschiedensten Dinge, seltsame Erfindungen, Launen, Einfälle meines unruhigen Gehirns; in der Verzweiflung hatte ich oft die entferntesten Themen gewählt, die mich die Anstrengungen langer Stunden kosteten und dann niemals angenommen wurden.

    Wenn ein Stück fertig war, nahm ich ein neues in Angriff, und ich ließ mich selten von dem Nein eines Redakteurs niederschlagen; ich sagte ständig zu mir selbst, dass es doch einmal glücken müsse. Und wirklich, zuweilen, wenn ich das Glück auf meiner Seite hatte und das Ganze mir gut geriet, konnte ich fünf Kronen für die Arbeit eines Nachmittags bekommen. Ich trat wieder vom Fenster weg, ging zu dem Stuhl, auf dem das Waschwasser stand, und sprengte ein bisschen Wasser auf meine blanken Hosenknie, um sie zu schwärzen und sie ein wenig neuer aussehen zu machen.


    Kristiana war um 1890 mit circa 135.000 Einwohnern, die überschaubare Hauptstadt Norwegens. Der junge Mann haust in einer öden Dachkammer und hadert mit Gott und der Welt. Die Wände sind mit Zeitungen beklebt. Er hat Hunger. Er hat nicht nur nichts zu essen, ihn treibt auch der Hunger nach Anerkennung und Liebe.

    Hamsuns Roman zeigt an keiner Stelle die romantischen Züge, wie Spitzweg sie auf seinem Gemälde "Der arme Poet" ironisch dargestellt hat. Hamsuns Schilderungen sind voll von grotesker Komik und düsterer Tragik, aber auch voll großer Leidenschaft.

    Weil der junge Mann seine Mietschulden nicht zahlen kann, muss er aus der engen Dachkammer ausziehen. Von diesem Augenblick an hat er keinen ruhigen Ort mehr, wo er schreiben kann. Er schreibt auf Parkbänken, schläft im Gefängnis, auf der Straße, im Wald und in einem Schuppen. Er ist nervös und überempfindlich. Jedes Mal jedoch, wenn der äußerste Punkt der Existenzmöglichkeit am Rand des Todes oder des Wahnsinns gekommen zu sein scheint, zeigt sich ein vorübergehender Ausweg. So trifft er unerwartet auf der Straße einen Redakteur, der ihm zehn Kronen zusteckt. Aber die sind bald wieder aufgebraucht, verschenkt der junge Poet doch im Augenblick des Überschwangs sein Geld an Menschen, von denen er meint, sie hätten das Geld nötiger als er.

    Versuche, die zusehende Verwahrlosung zu kaschieren, scheitern. Noch hat den obdachlosen Erzähler sein Stolz und Glaube an die Aufrichtigkeit der Menschen nicht gänzlich verlassen, auch wenn ihm bewusst wird, dass er auf der belebten Straße in den Augen der Passanten lächerlich erscheinen muss. Es sind die Augenblicke eines traurigen Stolzes.

    Dieser Stolz geht sogar soweit, dass er einem Krüppel, den er zufällig auf der Straße trifft, Geld schenkt. Zuvor ist er zum Pfandleiher gelaufen und hat seine Weste versetzt. Dem Pfandleiher erzählt er, dass sie ihm so oder so zu klein geworden sei. Erst nachher wird ihm klar, dass sich in der Weste der verbliebene Bleistiftstummel befand. Er läuft zurück und mit übertriebener Geste fordert er den Pfandleider auf, ihm den Bleistiftstummel auszuhändigen, habe er doch mit diesem eine wichtige philosophische Abhandlung verfasst. Ein Erinnerungsstück von höchstem Wert sei das Schreibgerät. Das Schmunzeln des Pfandleihers ignoriert er. Zurück auf der Straße verliert sich der Hochmut und der Hunger fordert wieder sein Tribut. Ihm wird schlecht, weil er sich für die restlichen paar Öre ein Frühstück gegönnt hat. Den Großteil des Geldes hat er dem Krüppel mit den Worten in die Hand gedrückt, er könne es sich ja leisten.

    Knut Hamsun verfügt über eine wunderbare Fabulierkunst. Die Wiedergabe der Geschehnisse spielen in diesem Roman eine untergeordnete Rolle. Es sind die Zustände, in denen der junge Antiheld über sich selber spricht, wie er auf seine extreme körperliche und seelische Verfassung reagiert. Von der Realität des Alltags hat er sich längst entfernt.

    Selbst als er bei Gelegenheit in einem Geschäft Geld stiehlt, plagt ihn sein Gewissen so sehr, dass er das Gestohlene einer armen Kuchenverkäuferin auf der Straße gibt. Im Laufe des Romans wird sein Zustand zusehends bedrohlicher, und selbst wenn er mal wieder etwas zu essen hat, muss er es wieder ausspucken, da sein Magen die Nahrung nicht mehr bei sich behalten kann. Auch seine Kleidung zerschleißt, seine Schuhsohlen sind durchlöchert. Es gibt nichts mehr, was er im Pfandhaus versetzten könnte. Die abgelösten Knöpfe seines Mantels kann der Pfandleiher beim besten Willen nicht mehr in paare Münze wechseln.

    Immer öfter muss er sich Erniedrigungen gefallen lassen. Weil er bei einem Kaufmann auf sein Bewerbungsschreiben das falsche Datum eingesetzt hat, verhöhnt ihn der Geschäftsmann. Hierauf reagiert er mit Unverschämtheiten, die ihn selbst überraschen. Auf der Straße verfolgt er eine Dame und führt sich ungehörig auf.

    Ich blieb stehen und ließ sie wieder vorausgehen, ich konnte im Augenblick nicht weitergehen, das Ganze kam mir so sonderbar vor. Ich war in einer reizbaren Laune, ärgerlich auf mich selbst wegen des Vorfalls mit dem Bleistift und im hohen Maße erregt von all dem Essen, das ich mit leerem Magen genossen hatte. Auf einmal nehmen meine Gedanken durch eine launenhafte Vorstellung eine merkwürdige Richtung, ich fühle mich von einer seltsamen Lust ergriffen, dieser Dame Angst zu machen, ihr zu folgen und sie auf irgendeine Weise zu ärgern. Ich hole sie wieder ein und gehe an ihr vorbei, wende mich plötzlich um und begegne ihr, Antlitz in Antlitz, um sie zu beobachten. Ich stehe und sehe ihr in die Augen und erfinde auf der Stelle einen Namen, den ich niemals gehört habe, einen Namen mit einem gleitenden, nervösen Laut: Ylajali. Als sie mir nah genug gekommen war, richte ich mich auf und sage eindringlich:

    Sie verlieren Ihr Buch, Fräulein.

    Ich konnte vernehmen, wie mein Herz hörbar schlug, als ich das sagte.

    Mein Buch? Fragte sie ihre Begleiterin. Und sie geht weiter.

    Meine Bosheit nahm zu, und ich folgte ihnen. Ich war mir in diesem Augenblick voll bewusst, dass ich verrückte Streiche beging, ohne dass ich etwas dagegen hätte tun können; mein verwirrter Zustand ging mit mir durch und gab mir die wahnsinnigen Einflüsterungen, denen ich der Reihe nach gehorchte. Wie sehr ich mir auch vorsagte, dass ich mich idiotisch benähme, machte ich doch die dümmsten Grimassen hinter dem Rücken der Dame und hustete einige Male rasend, während ich an ihr vorbeiging.


    Die Dame hatte gar kein Buch bei sich, kein Blatt Papier. Diese Überhöhungen und starken Schilderungen des einsamen Erzählers sind so eindringlich, dass der Leser mit hineingezogen wird in die hilflosen Momente des aufkommenden Wahnsinns.

    Doch diese Frau wird es sein, der er sich tatsächlich nähern kann. Sie hält ihn für einen exzentrischen Intellektuellen. Und als die beiden sich schließlich intim nähern, steht ihm klar vor Augen, wie weit fortgeschritten seine Verwahrlosung ist, sogar die Haare fallen ihm büschelweise aus.

    Doch er wehrt sich weiterhin, klammert sich an neue Ideen und fabelhafte Einfälle. Zu Papier gebracht bekommt er sie nicht. Und wieder vergeht eine rastlose Zeit mit Besorgungen; mit der Hetze des Hungers. Doch der Hunger ist ihm auch ein Wahrnehmung steigerndes Gefühl geworden.

    Der Tag endet und schlussendlich landet er für eine Nacht in einer Obdachlosenzelle. Dem diensthabenden Wachmeister erzählt er, er habe zu lange in einem Café gesessen und habe den Schlüssel zum Tor verloren. Als Beruf gibt er Journalist an. Als das Licht in der Zelle ausgeschaltet wird, kann er nicht schlafen, lauscht den Schritten der Vorbeigehenden auf der Straße. In dieser gespenstigen Ruhe erfindet er ein neues Wort, überzeugt davon, dass dieses Wort in keiner Sprache existiert: Kuboaa. Er lacht und betet es vor sich her. Spricht es leise, damit es niemand hört, er will es geheim halten. Er ringt mit der Bedeutung dieses Wortes, es soll etwas Seelisches ausdrücken. Er ist die Macht des Erzählers über das Wort, das dem jungen Mann von Zeit zu Zeit einen glückseligen Augenblick bereitet.

    Am nächsten Morgen nimmt er die angebotene Essensmarke nicht an, die jedem Obdachlosen zusteht. Er kann nicht, weil er sich ja als angesehener Journalist ausgewiesen hat. Auf der Straße wird ihm klar, dass er schon drei Tage und Nächte nichts gegessen hat. Wegen seiner Lügengeschichte vom verlorenen Schlüssel sinniert er, dass man ihn vielleicht wegen falscher Angaben inhaftieren könnte. Auf seinen ziellosen Wanderungen durch die Stadt findet er einen Holzspann, kaut auf ihm, um das Hungergefühl zu beruhigen.

    Auch jetzt noch, in Augenblicken totaler Verzweiflung, bleibt er seinen Prinzipien treu und will keine Almosen entgegennehmen. Ylajali hat ihm durch einen Boten zehn Kronen schicken lassen. Die wirft er seiner ehemaligen Hauswirtin vor die Füße. Nachher hockt er auf einer Treppe, versucht sich in Gedanken an einem Drama, das er begonnen hat zu schreiben, zu beruhigen. Es gelingt ihm nicht.

    Zehn Kronen ...

    Die Kuchenfrau der Elefantenbrücke.


    Schließlich landet der Verzweifelte am Hafen, setzt sich auf eine Kiste und rührt sich nicht mehr, tut nichts mehr, um sich aufrechtzuerhalten. Ein Schiff unter russischer Flagge liegt vor Anker. Als er den Kapitän erblickt, spricht er ihn an und sagt dem Mann, dass er jede Arbeit verrichten könne. Nach einigem Hin und Her will es der Kapitän mit dem runtergekommenen Kerl versuchen. Nach England soll es gehen. Falls man nicht miteinander zurechtkomme, könne man sich ja in England wieder trennen. Beim Auslaufen des Schiffes richtet der ermattete Erzähler noch einmal seinen Blick auf Kristiana, in allen Häusern sind die Fenster hell erleuchtet. Er ist auf dem Weg nach Leeds, einer Stadt, die keinen Hafen hat.

    Wer dieses Buch verstehen will, sollte seine größte Aufmerksamkeit nicht der an sich einfachen Geschichte, sondern den oft irrsinnigen Handlungen und Gedanken des Erzählers schenken. Sie machen den Roman eigentlich aus und benutzen die Handlung oft nur als Gerüst, um sich an ihr entfalten zu können. Genau das will Hamsun mit seinem Buch auch bewirken, denn er schreibt selber einmal darüber:

    Ich habe versucht, keinen Roman, sondern ein Buch zu schreiben; ohne Heirat, Landpartien und Bälle beim Großkaufmann; ein Buch über die feinen Schwingungen einer empfindsamen Menschenseele, über das besondere, eigenartige Gemütsleben, die Mysterien der Nerven in einem ausgehungerten Körper.

    Der innere Monolog und die erlebte Rede führt Knut Hamsun so souverän, dass seine Prosa James Joyce und Samuel Beckett als Vorbild diente.
    Knut Hamsun ist in Norwegen ein verfemter Autor. Er war unkritisch deutschfreundlich und hat mit den Nationalsozialisten paktiert. Trotz aller politischen Querelen schätzen junge Literaten und geadelte Schriftstellerkollegen die epische Kunst des Norwegers. Eines hat Knut Hamsun aber erreicht, seine Bücher haben einen eigenständigen Platz in Weltliteratur, ohne dass die Verfehlungen des Autors den Wert seiner Prosa schmälern.

    Hamsuns Zeitgenosse Kurt Tucholsky schrieb in einem Brief an Walter Hasenclever schon 1934 zu den politischen Äußerungen Knut Hamsuns:

    "Konnte er nicht das Maul halten? Er weiß doch von diesen Dingen überhaupt nichts. Er kennt Deutschland kaum - er ist überhaupt kein Politiker. Himmelarsch - und zwirn. Viele Enttäuschungen können mir hienieden nicht mehr begegnen, aber das war eine, und die hat gesessen. Ich hatte mir sein Altersbildnis besorgt, um es ins Schlafzimmer zu hängen - ich weiß nicht, ob ich das noch kann."

    Kurt Tucholsky hat zwar nicht das Bild seines Schriftstellerkollegen aufgehängt, aber er hat seine Bücher öfter als einmal gelesen. Gott sei Dank überleben gute Bücher ihre Autoren. "Hunger" ist eines davon: ein modernes Buch, dem man wünscht, dass es auch heute wieder viele Leser findet.

    Knut Hamsun: Hunger
    Aus dem Norwegischen von Siegfried Weibel
    Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann
    Claassen Verlag, 2009, 236 Seiten, 19,90 Euro

    Oscar Werner liest: Knut Hamsun: Hunger
    gekürzte Lesung
    Hörbuch Hamburg, 2 CDs, circa 150 Min, 19,95 Euro