Freitag, 19. April 2024

Archiv

Jugendstudie
"Junge Leute sind religiöse Touristen"

Gehört die Religion zum Mainstream dazu oder ist sie eher peinlich? Und: Sind junge Muslime frommer als ihre christlichen Altersgenossen? Jugendliche wollen Mainstream sein, sie sehnen sich nach Normalität und Sicherheit. Das ist ein Ergebnis der neuesten Sinus-Jugendstudie, für die 14- bis 17-Jährige befragt wurden. Jugendliche bastelten sich ihren persönlichen Glauben, sagte Peter Martin Thomas, einer der Autoren, im DLF.

Peter Martin Thomas im Gespräch mit Monika Dittrich | 27.04.2016
    Schüler an einem Gymnasium sitzen nebeneinander auf einer Tischtennis-Platte.
    "Wie ticken Jugendliche 2016?" - so der Titel der Sinus-Studie (dpa/Frank Rumpenhorst)
    Monika Dittrich: Die Studie trägt den Titel "Wie ticken Jugendliche 2016?". Also, Herr Thomas, wie ticken die Jugendlichen – haben Sie darauf eine Antwort gefunden?
    Peter Martin Thomas: Ja, wir haben eine Antwort gefunden. Aber die Antwort lautet: Es gibt nicht DIE Jugend, sondern die Jugendlichen sind sehr vielfältig und unterschiedlich, auch wenn sie im Gesamttrend in Richtung Normalität streben im Augenblick.
    Dittrich: Sie haben die Jugendlichen zu ihren Wertvorstellungen befragt, zum Beispiel, was sie über Glaube und Religion denken. Was sind da die wichtigsten Ergebnisse?
    Thomas: Es ist nach wie vor so, dass Sinnfragen für Jugendliche ganz wichtig sind. Das ist eine typische Frage der Jugendphase. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich mich gleich einer Religionsgemeinschaft oder einer Kirche zugehörig fühle oder womöglich sogar am kirchlichen Leben teilnehme. Wir haben eher nach wie vor religiöse Touristen, also junge Menschen, die sich aus verschiedenen Richtungen etwas zusammensuchen und dann ihren eigenen persönlichen Glauben basteln. Da gibt es Unterschiede zwischen christlichen und muslimischen Jugendlichen. Muslimische Jugendliche sind etwas stärker an ihre Glaubensgemeinschaft gebunden, leben ihren Glauben etwas stärker in der Familie, aber im Trend haben wir eine große Vielfalt der Möglichkeiten, wie ich mir heute meinen Sinn konstruiere.
    "Kirchen sind im Alltag nicht wirklich präsent"
    Dittrich: Dann lassen Sie uns zunächst auf die christlichen Jugendlichen gucken. Sie haben gesagt, die basteln sich ihren Glauben, ihre Religion. Aus welchen Strömungen bedienen sie sich denn?
    Thomas: Sie bedienen sich schon auch aus der christlichen Strömung, weil die hier sehr wahrnehmbar und präsent ist. Die Jugendlichen, die sich keiner Glaubensgemeinschaft zugehörig fühlen, gucken durchaus hin: Was passiert da, welche Werte und Orientierungen gibt es da? Aber gerade für Jugendliche, die außerhalb einer Religionsgemeinschaft bewegen, ist es auch interessant, auf eine Religion zu schauen, die hier vielleicht unbekannt oder ein bisschen exotischer erscheint, mal auf den Buddhismus zu schauen, aufs Judentum, den Hinduismus, um da zu erleben, welche Werte und Richtlinien es gibt.
    Dittrich: Andererseits beschreiben Sie einen gewissen Neo-Konventionalismus, also dass es einen durchaus positiv empfundenen Mainstream gibt. Jugendliche Subkulturen verschwinden eher. Das heißt, die Kirchen gehören zu diesem Mainstream nicht mehr dazu?
    Thomas: Das würde ich so nicht sagen. Die Kirchen sind für viele Jugendliche im Alltag nicht richtig präsent. Aber wenn es Jugendliche gibt oder junge Menschen, die sagen: Ich nehme an einer Glaubensgemeinschaft teil, ich gehe zum Gottesdienst, ich richtige mich in meinem Alltagsverhalten nach meinem Glauben, also ich esse kein Schweinefleisch als Muslim oder mir ist es als Katholik wichtig, jeden Sonntag zur Kirche zu gehen, dann sagen die anderen Jugendlichen: Ja, ist doch in Ordnung, es ich gut, wenn du deinen Glauben so lebst, wie es für dich richtig und wichtig ist.
    Dittrich: Welche Lehren sollten die Kirchen denn daraus ziehen, um auch junge Leute wieder für sich zu begeistern und in 50 Jahren nicht ohne Kirchenmitglieder dazustehen?
    Thomas: Vielleicht auf die letzten Hälfte Ihrer Frage erst mal als Motiv zu verzichten und zu sagen: Ich will die nicht als Mitglieder gewinnen, sondern ich will die Kontakt bringen mit dem, was wir an Antworten auf die Fragen des Alltags, auf Werte- und Sinnfragen anzubieten haben. Gerade für Jugendliche, die etwas religionsferner sind, ist das manchmal ganz schön exotisch, aufregend, interessant, welche Antwort Glaubensgemeinschaften haben. Dieses Interesse aufzugreifen, ohne gleich mit der Mitgliedschaft zu drohen, das wäre der beste Weg, jungen Menschen den Kontakt zur Kirche zu ermöglichen und Ihnen die Freiheit zu geben: Wo docke ich denn jetzt an? Wo will ich mir etwas für mein eigenes Leben dazu nehmen aus dieser Glaubensgemeinschaft.
    "Muslimische Jugendliche stehen selbstbewusster zu ihrem Glauben"
    Dittrich: Sie haben in Ihrer Studie auch ganz gezielt muslimische Jugendliche befragt. Was haben Sie herausgefunden?
    Thomas: Wir haben herausgefunden – und da muss man dazu sagen, dass wir vor allem Jugendliche hatten, die eher aus niedrigen oder mittleren Bildungsabschlüssen kamen, dass die schon etwas selbstbewusster zu ihrem Glauben stehen, dass sie das mehr mit ihrer Identität verbinden. Es spielt in ihrem Familienleben eine größere Rolle, sie konnten mehr von Elementen aus ihrem Alltag berichten wie der Teilnahme am Zucker- und Opferfest, dem Ramadan. Da merkt man: Der Glaube ist ein wichtiger Teil der Identität, und gibt auch für bestimmte Dinge im Alltag eine Richtlinie mit vor. Wir haben sie natürlich gefragt: Hat das, was Sie jetzt wahrnehmen in der Welt, dass es religiös motivierte Gewalt gibt, einen Einfluss auf eure Religion? Und egal, ob es Christen sind oder Muslime und Jugendliche, die gar keine Glaubensrichtung angeben, alle sagen: Das kann gar nicht sein. Man kann nicht verstehen, dass Religion eine Begründung für Kriege sein kann. Ganz besonders die muslimischen Jugendlichen distanzieren sich, weil sie wollen, dass ihre Religion als eine normale Religion wahrgenommen wird und nicht mit einer aus ihrer Sicht völlig falschen Auslegung des Korans assoziiert wird.
    Dittrich: Sind junge Leute also tendenziell in religiösen Fragen toleranter als Erwachsene?
    Thomas: Man könnte den Eindruck haben. Wir haben keine Erwachsenen gefragt, aber wir können sagen, dass die Jugendlichen religiös tolerant sind, dass man das gut akzeptieren kann, dass es eine Vielfalt der Religionen gibt. Es ist im Alltag auch gar kein großes Thema. Manchmal wussten die Jugendlichen gar nicht, welcher Religionsgemeinschaft ihre Freunde oder Freundinnen angehören.
    Dittrich: Wie erklären Sie sich dann die Radikalisierung – die wir ja insbesondere bei Jugendlichen oder jungen Leuten erleben? Junge Leute sind die Zielgruppe von islamistischen Organisationen.
    Thomas: Da muss man sagen, das ist nun kein Teil unserer Studie, sondern ein Befund außerhalb. Es gibt eine Radikalisierung, aber es ist quantitativ gesehen auf die Gesamtzahl der Jugendlichen bezogen eine sehr, sehr kleine Zahl. Die bewegt sich im Promillebereich, wenn wir davon reden, dass Jugendliche durch den Salafismus oder ähnliches angesprochen werden. Es gibt Jugendliche, die sind in einer schwierigen, unsicheren Lebenslage, in der es ihnen an Anerkennung fehlt, in der es ihnen an Zugehörigkeit fehlt, an Orientierung, und in der vielleicht in manchen Fällen für sehr einfache Antworten, die ihnen viel Anerkennung und Zugehörigkeit versprechen, zugänglich werden. Aber das gilt in keinem Fall für die Mehrheit der Jugendlichen, die sich als dem Islam zugehörig empfinden.
    Dittrich: Unterscheiden sich die muslimischen Jugendlichen in den Wertvorstellungen von Jugendlichen anderer Religionen?
    Thomas: Das konnten wir so in einer Generaläußerung nicht feststellen. Das ist vielleicht schon mal so, dass mal ein einzelner muslimischer Jugendlicher sagt, dass es ihm wichtiger ist, dass seine Partnerin oder sein Partner die gleiche Glaubensrichtung hat. Christliche Jugendliche sagen, dass das nicht so relevant ist. Es kann aber auch sein, dass sie (muslimische Jugendliche) sagen: Ich lasse mich auch im Alltag durch Regeln des Glaubens führen, was christliche Jugendliche seltener sagen. Aber dass man ganz generalisiert sagt, die muslimischen Jugendlichen glauben mehr und stärker und die christlichen glauben weniger, das wäre zu viel des Guten. Man könnte sagen: Das Gewicht ist dort ein bisschen stärker in die Waagschale gelegt als bei den christlichen, aber es schwankt eben auch.
    "Gutes Leben" hat viel mit Sicherheit zu tun
    Dittrich: In Ihrer Studie ist vom "guten Leben" die Rede – was ist denn für die Jugendlichen von heute das "gute Leben"?
    Thomas: Das gute Leben hat viel mit Sicherheit zu tun. Wir leben in einer unsicheren Welt mit Konflikten, mit wirtschaftlichen Krisen und ähnlichem. Sie wünschen sich ein Leben, das sicher ist. Sie wünschen sich ein Leben in Harmonie. Mit Freunden, die man gut versteht, mit einer eigenen Familie, mit eigenen Kindern, mit einem sicheren Zuhause. Auch ein sicherer Arbeitsplatz gehört zum guten Leben dazu. Und dann ist ein Teil des guten Lebens, dass man so etwas wie Toleranz und gegenseitige Akzeptanz hat, damit jeder ein bisschen so leben kann, wie er oder sie gerne möchte.
    Dittrich: Sie haben für Ihre Erhebung 72 qualitativen Tiefeninterviews geführt. Wie muss ich mir das vorstellen?
    Thomas: Das stellen Sie sich so vor, dass unsere Interviewer – und das sind in der Regel auch relativ junge Leute – zu den Jugendlichen nach Hause kommen, sie dort besuchen. Die Eltern sind natürlich dann nicht dabei, damit die Jugendlichen sich dann auch trauen, alles zu erzählen, was sie beschäftigt. Wir geben den Jugendlichen einen Erzählimpuls. Wir wollen mit ihnen ins Gespräch kommen, aus ihrem Alltag zu erzählen, das, was Ihnen wichtig ist, was ihnen auch selber vielleicht gerade einfällt. Und wir haben dann zwar einen Themenkatalog dabei, den wir auch bearbeiten möchten – etwa: Wir wollen mit euch über Digitalisierung reden oder wir wollen mit euch über Flucht und Asyl reden. Aber wir folgen eigentlich eher so gut es geht dem Gesprächsleitfaden der Jugendlichen. Dadurch haben wir die Chance, dass wirklich die Themen zur Sprache kommen, die für die Jugendlichen relevant sind, nicht die Themen, die wir vorher als Frage vorbereitet haben.
    Dittrich: Welche Aussagekraft hat eine Studie, wenn sie die Erkenntnis von 72 jungen Leuten haben?
    Thomas: Sie ist nicht quantitativ repräsentativ, das heißt, es ist nicht wie bei einer Sonntagsfrage. Wenn Sie zur Wahl fragen: "Wer wählt links, rechts, rot, grün oder schwarz?", dann brauchen Sie 1000 oder 2000 Leute, damit Sie da die Größenordnung feststellen können. Aber sie bildet all die Meinungen und Werte ab, die man sich bei Jugendlichen vorstellen kann. Und das müssen Sie sich mal so vorstellen: Sie gehen jetzt heute Mittag auf den Marktplatz einer Kleinstadt und fragen dort die Menschen: "Was denkst du denn über Kirche und Religion?" Wenn Sie 20 Leute befragt haben, dann werden Sie wahrscheinlich schon ziemlich viele sich wiederholende Meinungen bekommen, Sie werden nicht ständig noch einmal eine neue Meinung kriegen. Sie können mit einer kleinen Auswahl relativ schnell feststellen, was das Spektrum ist der Meinungen und Wertungen ist, die es gibt. Und so funktioniert qualitative Forschung.