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Kall ist die Rettung vom kleinwüchsigen Rosarius

Norbert Scheuer lebt seit Langem in Kall, einer Gemeinde mit knapp 12.000 Einwohnern, am Rand des Naturparks Eifel. Kall ist der Lebensmittelpunkt sämtlicher Figuren Scheurers. In seinem Buch "Peehs Liebe" ist der kleinwüchsige Held Rosarius unsterblich in Petra, die er Peeh nennt, verliebt. Alle kennen und helfen ihm in Kall, ohne die Stadt wäre er verloren.

Von Agnes Hüfner | 17.10.2012
    Norbert Scheuer:"Ja, so ist es. Er kann zwar alle Straßen, die er jemals gesehen hat, behalten, aber sobald er sich orientieren möchte, versagt er. In dem Moment, wo er Kall verlässt, ist sozusagen die ganze Welt für ihn ein Rätsel, und er findet noch nicht einmal mehr nach Kall zurück. Deswegen ist er so an diesem Ort verhaftet, weil er weiß genau, wenn ich Kall verlasse, dann ist dieser Ort verschwunden. Insofern ist das symbolisch gesehen, dass in dem Moment, wo wir unsere Heimat verlassen, sind wir als Person nicht mehr."

    Ich habe "Peehs Liebe" nicht als Heimatroman gelesen. Es gibt darin Abenteurer, die die Welt bereisen, es gibt Figuren, die Kall den Rücken kehren.

    Scheuer:"Es ist nicht so, dass in dem Roman gesagt würde, man findet seine Ruhe und überhaupt das Leben nur an einem festgelegten Ort, sondern es wird einfach nur gesagt, dass irgendein Mittelpunkt, ein Lebensmittelpunkt notwendig ist, sonst verliert man sich. Auf der anderen Seite ist es so, dass wir immer rauswollen. Das ist ein menschliches Grundbedürfnis rauszugehen, etwas zu erfahren und wieder zurückzukommen. Und eigentlich ist das genau der Prozess auch, wie man sich Wissen aneignet. Und insofern sind diese beiden Prozesse in diesem Roman sehr wichtig. Der Rosarius ist in diesem Zusammenhang eine ganz extreme Person."

    Einerseits lebt er wie angenagelt in seinem Kall, andererseits kennt er die Welt, denn er hört zu, speichert, was ihm erzählt wird, bis er später, nachdem er zur Sprache gekommen ist, es in eigenen Worten wiedergeben kann. Oft begleitet er den Lastkraftwagenfahrer Karl Höger auf dessen täglichen Touren zwischen Steinbruch und Zementwerk, reist mit ihm in die fernen Länder, die Höger immer einmal wieder aufsucht, ehe er nach Kall zurückkehrt.

    Zitat: "Den Rest des Tages fuhr ich mit Höger im Steinlaster durch die verschneiten Landschaften Kanadas. Auf diese Weise bin ich überall hingekommen. Ich saß neben Höger, hörte ihm zu und glaubte, dass alles wirklich war."

    Scheuer:"Es gibt doch in dem Roman irgendwo die Behauptung von Rosarius, dass es im Grunde nur eine schön erzählte Geschichte sein muss, dann würde er das glauben. Er ist etwas naiv in diesem Zusammenhang. Ausgedrückt wird dadurch, dass wir im Grunde andauernd nur von Erzählungen leben. Wir erzählen etwas von uns. Indem wir, sagen wir mal, über ein technisches Problem reden, bringen wir trotzdem unsere Person als Erzählung ein."

    Anders als in den früheren Büchern ist der Roman "Peehs Liebe" eine mehrstimmige Komposition. Rosarius lässt als Ich-Erzähler sein Leben Revue passieren und erzählt die Geschichte seiner Liebe zu Peeh, dem Mädchen, dem er als Dreizehnjähriger begegnete. Ich zitiere: "Sie war das, was mir immer gefehlt hatte, um all die verwirrenden Dinge auf der Welt besser zu ertragen". Auch als sie Kall längst verlassen hat, liebt Rosarius Peeh unbeirrt. Annie ihrerseits berichtet vom alten Rosarius, der seit einem Schlaganfall im Pflegeheim lebt. Der Erzähler fügt Berichte über einen namenlosen Archäologen ein, der Rosarius Vater sein soll und der in den Wüsten Nordafrikas den Verlauf römischer Straßen erforscht.

    Scheuer:"Es ist sozusagen etwas, was den Rosarius so hat werden lassen, wie er geworden ist. Der Rosarius entwickelt während seines Lebens so ein Faible für Straßen, deswegen, weil er erzählt bekommen hat, dass er einen Vater hat, der Archäologe ist und Straßen sozusagen gesammelt hatte und kartografiert hatte. Und das hat ihm in seinem Gemüt halt die Schraube gedreht, dass er jede Straße auswendig lernen muss. Es ist im Grunde eine Parallelität zwischen den beiden Charakteren, aber gespeist wird die sozusagen aus einer psychologischen Situation, in der Rosarius ist, weil er seinen Vater nicht kennt."

    Annie, die Altenpflegerin, notiert, was der bettlägerige Greis vor sich hinbrabbelt. Wie ein Archivar trägt sie zusammen, was sie in seinen Habseligkeiten an Büchern und Papieren und Erinnerungstücken findet. Sie will, ich zitiere, "alles so aufschreiben, wie es in Rosarius Erinnerung gewesen war."

    Scheuer:"Rosarius lebt da in dem Bett und plappert vor sich hin. Es ist unstrukturiert, vollkommen unstrukturiert, was er von sich gibt. Manchmal summt er nur, oder er erzählt Passagen aus dem Hyperion. Die Annie ist trotzdem von dieser Melodie so begeistert, dass sie versucht, einen Faden, einen roten Faden darein zu bringen und macht sozusagen aus dem, was Rosarius erzählt, die Geschichte."

    Rosarius seinerseits hält Annie in seinem verwirrten Kopf für die geliebte Peeh. Ausführlich zitiert er aus Hölderins Hyperion

    Scheuer:"Die Essenz des Hyperion in diesem Roman ist im Grunde diese fatale Liebe, die Hyperion gegenüber Diotima hatte und die im Grunde auch Rosarius gegenüber seiner Peeh hatte."

    Dass Rosarius den Hyperion auswendig aufsagen kann und Annie Hyperion liest, verdanken sie dem ehemaligen Nazi Vincentini, der mit Hölderins Gedicht im Tornister im besetzten Warschau seiner Mordlust nachging. Der junge, 1938 geborene Rosarius begleitet Vincentini häufig aus dessen Fahrten durch die Eifel, wo Vincentini den Leuten ein Massagegerät, den sogenannten Perseus, andreht. Während der Fahrten erzählt er von seinen Verbrechen, zitiert aus dem Hyperion und berichtet von seinen Erfolgen bei Frauen.

    Scheuer:"Vincentini ist für mich eine ganz wichtige Figur in dem Roman. Vielleicht sogar die wichtigste. Der kommt ja auch in anderen Büchern von mir vor. Überall taucht diese Person auf, und ich wollte mehr von diesem Leben erzählen, davon, wie er mit seinem Perseus Frauen und Kranke beglückt. Und der Rosarius ist sozusagen der Beobachter dieses Vorgangs. Und er ist dafür besonders geeignet, weil er wie mit einer Tarnkappe den Vincentini begleitet. Der Vincentini nimmt Rosarius nicht ernst, weil Rosarius nicht reden kann. Und später kann Rosarius doch diese Geschichte erzählen. Und das ist für mich ganz wesentlich, dass die sozusagen ja sehr fantastische Geschichte des Vincentini erzählt werden kann von jemandem, der sozusagen ein Augenzeuge ist."

    An einer Stelle verzagt Annie, das Sprachrohr des Erzählers, und sagt, nur Mosaiksteine bringe sie zusammen, ein Ganzes ergebe das nicht.

    Scheuer:"Also wir rekonstruieren doch auch unsere Biografie. Und insofern ist immer ein Zusammensetzen von Mosaiksteinchen mehr oder wenig realitätsnah. Der Autor hat natürlich den Vorteil, dass er das weiß, wenn er eine Geschichte schreibt, und kann das sozusagen gezielt angehen. Ich empfinde das als etwas sehr Angenehmes, dass man hingehen kann und sagen kann, okay, jetzt mach’ ich eine Geschichte und spiele Demiurg."


    Norbert Scheuer, Peehs Liebe
    Roman, C.H. Beck Verlag, München, 2012. 223 Seiten, 17.95 Euro.