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Kampfschrift für Kempowski

Walter Kempowskis Humor war es, der Anfang der 80er den Redakteur der Satirezeitschrift "Titanic", Gerhard Henschel, auf die Fährte des damals von der Germanistik teils misstrauisch beäugten Autoren setzte. In seiner Streitschrift "Da mal nachhaken!" verteidigt Henschel den schreibenden Dorflehrer Kempowski gegen falsche Feinde und Freunde. Außerdem neu: Kempowski im O-Ton mit Lesungen über das Verhältnis von Lehrern und Schülern aus dem Gymnasium Weilheim.

Von Florian Felix Weyh | 29.04.2009
    "Für diejenigen, die sich für Germanistik interessieren - ich bin ja Pädagoge, das wissen Sie - möchte ich Ihnen einen kleinen Tipp geben. In diesem Kapitel wird nämlich die Frage der Erziehung variiert. Es ist sozusagen ein Thema mit Variationen. Für diejenigen, die das nicht wissen, mag es weiter keine deutliche Struktur aufweisen. Aber Sie sind jetzt in der glücklichen Lage, das Kapitel besser zu verstehen als andere."

    So klang er, der große Schriftsteller Walter Kempowski, den man gerne als kleinen Dorfschullehrer titulierte, weil er den langjährigen Brotberuf nie verleugnete. 1982 las er im Gymnasium Weilheim belletristische Passagen über das Lehrer-Schüler-Verhältnis vor. Die Bänder im authentischen Kassettenrekordersound sind wieder aufgetaucht und nun als Hörbuch erhältlich. Vor allem beim schrulligen Lehrers Böckelmann läuft Kempowski zu großer Form auf, zieht er sich damit doch selbst durch den Kakao:

    "Einmal hat Christel sehr geweint, ihre Eltern haben sich getrennt. Da wollte der Lehrer wissen, wer die Möbel nun gekriegt hat."

    Dieser Humor war es, der Anfang der 80er-Jahre den Redakteur der Satirezeitschrift "Titanic", Gerhard Henschel, zu Walter Kempowski lockte, was durchaus Mut erforderte. Im Literaturbetrieb hallte noch ein Verfemungsurteil des Germanisten Hartmut Scheible nach, Kempowski schreibe mit seinen Familienromanen "so etwas wie eine Landserstory für Zivilisten". Selten hat ein Germanist und späterer Universitätsprofessor schlimmer daneben gegriffen als in diesem Fall - aber es passte in die Zeit. Das Stalinismusopfer Kempowski, das seine Jugend in DDR-Knästen verlor, war als lebendes Mahnmal herzlich unwillkommen im linksliberalen Kulturmilieu. Ein Blick auf die Geburtsdaten von Autor, Kritiker und Biografen spricht Bände: Kempowski, Jahrgang 29, konnte Scheible, Jahrgang 42 - ja dessen ganze Generation! - nicht für sich gewinnen und musste auf die Enkel warten. Gerhard Henschel wurde 1962 geboren, der erste Kempowski-Biograf Dirk Hempel ist sogar noch drei Jahre jünger. Beide zeichnet ein unverstellter Blick auf Leben und Werk des Rostockers aus. Während Hempels Biografie noch zu Lebzeiten des Autors unter dessen wachsamen Augen vorgelegt wurde und sich auf die Lebensbeschreibung konzentrierte, legt Gerhard Henschel nun eine ganz persönliche Kampfschrift vor. Er will Kempowski aus dem Gestrüpp falscher Verdächtigungen, neidischer Trivialitätsvorwürfe und politisch motivierter Verleumdungen befreien.

    Passagenweise wird das zum herrlichen Schlachtfest, auf dem das Feuilleton ordentlich bluten muss. Es bereitet Henschel sichtlich Spaß, die kulturellen Irrwege der 68er noch einmal aufzuspießen und die Penetranz des "Ich bin der Retter der SPD"-Nobelpreisträgers Grass gegen die liberale Skepsis Kempowskis zu setzen, dass jedwedes Parteigetriebe eines Künstlers unwürdig sei. Aber dieser Strang alleine ergäbe doch ein arg dünnes, dem Jubilar kaum angemessenes Pamphlet. Sehr ausführlich und sehr akribisch beleuchtet Henschel deshalb auch die Problemzonen Kempowskis: Sein seltsames Rollenspiel, zugeschriebene Verfehlungen durch Übertreibungen in eben diese Richtung auszukosten, sein verdruckstes Verhältnis zu Frauen, seine cholerische Schlechtlaunigkeit und der Hang zu miesepetrigem Nachtragen allerkleinster menschlicher Verfehlungen. "Daraus soll nun einer klug werden!" seufzt Eckermann Henschel an einer Stelle tief auf, denn im Kern der eigenen Biografie ist sich Kempowski selbst seiner Bewertungen unsicher. Einerseits waren da die gestohlenen Jahre in Bautzen unter heftigen Gewissensbissen, weil der 19-Jährige unter Folterandrohung die eigene Mutter ans Messer lieferte. Andererseits schuf dieser Druck eben auch - meinte Kempowski - das literarische Werk: "Ich habe die Familie zerstört, nun suche ich sie auf Papier wieder aufzubauen." Oder: "Ein verordnetes Lebenswerk lastet auf mir, da gibt es kein Wenn und Aber."

    Dass Druck durch verlorene Jahre zu einer "Arbeitsmacke" führt (O-Ton Kempowski), kennt man auch aus anderen Fällen, etwa vom Philosophen Hans Blumenberg, der im Dritten Reich nicht studieren durfte und das zeitlebens aufzuholen suchte. Von den Familienromanen über die Tagebücher bis hin zu den "Echolot"-Bänden ist im Oeuvre Kempowskis allerdings durchaus auch Lebenszugewandtheit spürbar, die das Bild des verbissenen Schreibtischarbeiters zu korrigieren vermag. Wenn es etwas zu genießen gab, dann genoss es dieser Autor auch ... oder ließ es zumindest seine Helden tun:

    "'Kinder', sagt Herr Böckelmann, 'heute sprechen wir mal über Autos! Zum Beispiel über den Audi 100. Was ist das doch für ein wunderbares Auto, der Audi 100!' Die ganze Stunde hat er vom Audi geredet. Und als die Spitzenkraft gesagt hat: 'Der BMW ist aber besser!', da hat Herr Böckelmann nur gelacht und 'Geh mir doch weg mit deinem BMW!', hat er gesagt. Und zu Mittag hat ihn seine Frau abgeholt in einem Audi, und der war nagelneu."

    Gerhard Henschel: "Da mal nachhaken! Näheres über Walter Kempowski"
    DTV, 238 Seiten, 14,90 Euro

    Walter Kempowski: "Die Herren Hagedorn, Jonas und Böckelmann"
    Langen/Müller Hörbuch, 1 CD, 56 Minuten