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Kein Tod durch Nobelpreis

Zum 100. Geburtstag und 25. Todestag von Jean-Paul Sartre ehrt Frankreich einen seiner bedeutendsten und umstrittensten Philosophen und Schriftsteller mit einer großen Ausstellung in der Bibliothèque Nationale. Bereits zu Lebzeiten wurde Sartre hoch verehrt; er sollte gar den Nobelpreis erhalten, allerdings sah er selbst das anders: "Dass ich noch lebe, liegt nur daran, dass ich ihn abgelehnt habe".

Von Uli Aumüller | 21.06.2005
    Am Anfang waren die Wörter, die der kleine Poulou, aus dem einmal der weltberühmte Schriftsteller und Philosoph Jean-Paul Sartre werden sollte, in den zahllosen Büchern im Arbeitszimmer seines Großvaters, des Deutschlehrers Charles Schweitzer, solange von allen Seiten betrachtete, bis er sich selbst das Lesen beigebracht hatte.

    Ein Jahr nach seiner Geburt am 21. Juni 1905 war seine Mutter Anne-Marie, nachdem die Tuberkulose ihren Mann, einen Marineoffizier, früh dahingerafft hatte, zu ihren Eltern nach Paris zurückgekehrt. Über seine Kindheit im liberal protestantischen Bildungsbürgertum schrieb Sartre 1964 in seinem wohl schönsten Buch, Die Wörter:

    Ich habe mein Leben begonnen, wie ich es zweifellos beenden werde: inmitten von Büchern. Ich habe nie Höhlen gegraben, nie botanisiert oder mit Steinen nach Vögeln geworfen. Die Bücher waren meine Vögel, meine Haustiere und mein Tummelplatz; die Bibliothek war die Welt im Spiegel.

    1929, am Ende seines Philosophiestudiums verliebte Sartre sich in Simone de Beauvoir, mit der ihn eine antibürgerliche, atheistische Weltsicht verband. Der Ehrgeiz der brillanten Studentin war es, ein literarisches Werk zu schaffen, während er "Spinoza und Stendhal werden" wollte. Ihre gleichberechtigte libertäre Lebensgemeinschaft mit dem Anspruch auf rückhaltlose Offenheit und wechselseitige Freiheit sollte ein viel diskutiertes, viel kopiertes Beziehungsmodell kommender Generationen werden.

    Nach frustrierenden Jahren als Philosophielehrer in der Provinz und wiederholten Ablehnungen seiner Manuskripte erscheinen 1938 Sartres Aufsehen erregender Roman "Der Ekel" und der Novellenband "Die Mauer", in denen er sich mit der Zufälligkeit und Absurdität der Existenz auseinandersetzt, und machen ihn auf einen Schlag berühmt.

    " Nie waren wir freier als unter der deutschen Besatzung. Wir hatten alle unsere Rechte verloren, vor allem das Recht zu sprechen. Man verhöhnte uns, und wir mussten schweigen; man deportierte uns in Massen als Arbeiter, als Juden, als politische Gefangene. Da das Nazigift sich bis in unser Denken einschlich, war jeder richtige Gedanke eine Errungenschaft; da eine allmächtige Polizei versuchte, uns zum Schweigen zu zwingen, wurde jedes Wort kostbar. "

    Nach einem Jahr deutscher Kriegsgefangenschaft war Sartre in das besetzte Paris zurückgekehrt. 1943 erschien sein philosophisches Hauptwerk Das Sein und das Nichts, die von Husserl und Heidegger beeinflusste Theorie eines atheistischen Existentialismus. Der Einbruch der Geschichte in sein Leben vertrieb ihn aus dem Reservat der Wörter: Er engagierte sich, indem er schrieb.

    In seinem Theaterstück Die Fliegen forderte er, im antiken Gewande, zum Widerstand gegen die deutschen Besatzer auf. 1945 veröffentlichte er die ersten zwei Bände des Romanzyklus Die Wege der Freiheit, die oft als Thesenromane abgetan wurden, jedoch ganz eigenständige sprachliche Kunstwerke sind.

    Mit Simone de Beauvoir und Maurice Merleau-Ponty gründete er die bis heute einflussreiche politisch-literarische Zeitschrift Les Temps modernes. In wenigen Jahren entstand ein gigantisches vielseitiges Werk: Philosophie und Romane, Theater und Drehbücher, Kunst- und Filmtheorie, Essays und politische Pamphlete, sogar Chansons: der blutjungen Schauspielerin Juliette Gréco schenkte er einen Liedtext und lancierte sie als Sängerin.

    Der Existentialismus stieg in die Jazzkeller hinab, wurde zum modischen Lebensstil. Bis in die frühen siebziger Jahre wird Sartre weit über Frankreich hinaus der engagierte Intellektuelle par excellence sein, der sich, zeitweilig als Weggenosse der Kommunisten, später der Maoisten, verehrt und verhasst wie kein anderer, einmischt, Stellung bezieht vom Algerienkrieg bis zum Vietnamkrieg, vom Aufstand in Ungarn bis zu den Haftbedingungen der RAF in Stammheim. 1964 war ihm für Die Wörter der Literaturnobelpreis verliehen worden.

    " So machen sie es immer, es gibt immer ein Buch, das ein letztes Lebenszeichen des Autors sein muss, und dann tötet man ihn mit dem Nobelpreis. Die Nobelpreisträger sind übrigens alle schnell gestorben. Dass ich noch lebe, liegt nur daran, dass ich ihn abgelehnt habe. "

    Sein letztes Werk, die monumentale Flaubert-Studie "Der Idiot der Familie", musste Fragment bleiben, da er erblindete. Am 15. April 1980 starb Jean Paul Sartre. Seinem Sarg folgten 50000 Menschen, in Trauer um eine Identifikationsfigur, die die Widersprüche einer zu Ende gehenden Epoche mutig ausgetragen hatte.