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Keine Therapie der Andersartigkeit

Mit dem Motto "Inklusion oder mixed abilities" bringt das Leipziger Festival Tanzoffensive Gruppen und Performer auf die Bühne, die körperliche oder geistige Behinderung haben. Oder solche, die künstlerische Angebote machen, von denen Menschen mit Behinderungen nicht ausgeschlossen sind. Mit dem Motto geht es nicht nur um Teilhabe.

Von Claudia Euen | 04.06.2013
    "Ich verstehe nicht", sagt eine Tänzerin und schubst ihren männlichen Kollegen. Gemeinsam rangeln und rollen sich die beiden über die Bühne. Ihr Unverständnis ist eine schöne Metapher für das Stück "Strange lands and people". Denn der Choreograf Joshua Monten erkundet mit diesem Tanzstück eine Welt, die ihm als Hörender weitgehend unbekannt ist: die Welt der Taubstummen. Er hat mithilfe der Gebärdensprache eine Choreografie entwickelt. Vier Tänzer bewegen sich wie Katzen durch den Raum. Sie verbiegen sich, springen und kämpfen. Sie lieben sich und stoßen sich ab. Ihre Arme übersetzen Gedanken, Emotionen und Musik zum Teil in Gebärdensprache. Die hin und wieder gesprochenen Wörter erscheinen zuweilen banal, doch sie machen uns klar, was Gehörlosen verborgen bleibt. Ihre Sprache sind die Bewegungen, sie sehen getanzte Worte.

    "Der erste Ansatz war eine Begeisterung für die Gebärdensprache. Wir haben mit Gebärdensprechenden gearbeitet und die haben uns darauf aufmerksam gemacht, wie man das Stück integrativer gestalten könnte. Dass es eine induktive Höranlage geben soll, dass Teile der Musik übersetzt werden soll in Gebärdensprache. Das hat unseren künstlerischen Prozess sehr beeinflusst und bereichert. Und es ist eine große Freude dann, dass wir etwas haben können, wo sich Gehörlose und Hörende einander begegnen und mehr übereinander lernen, durch das Stück und auch durch die Publikumsgespräche, die danach stattfinden."

    Sagt Joshua Monten. Der Choreograf hat nicht nur ein kraftvolles Tanzstück entwickelt, er spielt auch mit gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Menschen, die keine Gebärdensprache beherrschen, sind nicht in der Lage alle Gesten zu deuten. Genauso wie taube oder gehörgeschädigte Menschen in einer sprechenden Umgebung Außenseiter sind, weil sie die Bedingungen der Mehrheitsgesellschaft nicht erfüllen können.

    Gerda König hatte keine Ambitionen, Menschen mit Behinderungen zum Thema zu machen, obwohl die Künstlerin selbst im Rollstuhl sitzt. Seit 1995 tritt sie mit ihrer Tanzcompany Din A 13 auf internationalen Bühnen auf. In ihrem Stück "Changeable Cohesion", mit dem sie in Leipzig zu Gast ist, tanzen zwei Frauen und vier Männer, die im Bürgerkrieg in Sri Lanka verletzt wurden. Ihre Bewegungen sind perfekt, erst nach einer Weile entblößen sie ihre Gliedmaßen, die keine mehr sind: Es sind Prothesen. Gerda König will Umbrüche in der Gesellschaft zeigen und das, was diese Umbrüche mit den Menschen machen.

    "Mir geht es in erster Linie um Tanz um Kunst und um andere und neue Bewegungsqualitäten, die eine Bereicherung sind für den zeitgenössischen Tanz. Und das kann jemand sein, der eine körperliche Besonderheit hat, das kann jemand sein, der total dick ist und schwerfällig, das ist nicht limitiert in dem Sinne. Aber durch diesen anderen Körper mit dem ich arbeiten kann, eröffnen sich ganz neue Türen, ganz neue Bewegungsaspekte, die dann von den sogenannten professionellen Tänzern wiederum genutzt werden können."

    Dass Menschen mit Behinderungen auf der Bühne stehen, ist nicht neu in deutschen Theatern. 1978 führte der im Rollstuhl sitzende Schauspieler Peter Radtke das erste Stück mit Menschen mit Behinderungen auf. Christoph Schlingensief brachte wiederum Schauspieler und Laien zusammen mit Menschen mit geistigen Behinderungen auf die Bühne und fragte, wer hier eigentlich behindert ist? Dennoch tauchen solche Tanz- und Theaterstücke nicht automatisch in den Spielplänen großer Häuser auf. Das ist genau das Problem, sagt Gerda König, die sich wünscht, dass wir "mixed abilities"-Festivals irgendwann nicht mehr brauchen.

    "Ich denke, dass es wichtig ist, das geballt sehen zu können. Aber ich denke, es geht auch darum, ein Publikum auch dahin zu führen. Das heißt, man muss kontinuierlich dabei bleiben, dass jedes Jahr ein, zwei Gastspiele von "mixed abled"-Companys in größeren Häusern gespielt werden, um das dann einfach das nicht mehr separat zu sehen als was besonders. "

    Doch nicht jedes Stück führt zu mehr Inklusion, findet Gerda König. Zum Beispiel "Disabled Theatre" von JérÔme Bel, dass nur Klischees bedient, wie sie sagt.

    "Das Publikum bekam das zu sehen, was es gewohnt ist oder was es denkt, was geistige Behinderung ist. Das Publikum bekam das zu sehen, was es erwartet und das ist für mich ein totaler Rückschritt."

    JérÔme Bel erhielt beim diesjährigen Theatertreffen in Berlin ein großes Medienecho. Gelobt wurde die Ursprünglichkeit der Darsteller, die Behinderten verkörperten keine Rollen, sondern ausschließlich sich selbst. Was diese Kritiken auch deutlich machen: Es zählte eher der therapeutische Ansatz als die künstlerischen Maßstäbe. Die sind den Machern der Tanzoffensive aber genauso wichtig , sagt Dirk Förster, Kurator und Leiter des Loffts in Leipzig.

    "Wenn ich einen behinderten Künstler habe und ihn ernst nehme, dann muss ich ihm auch sagen können, wenn ich etwas schlecht finde. Dann darf ich nicht sagen, ach das ist ja toll, weil du behindert bist und machst jetzt Kunst, dann muss ich das automatisch gut finden, sondern, ne wirkliche Inklusion ist ja erst dann gegeben, wenn ich einfach mal die Voraussetzungen anschaue, unter denen eben gearbeitet wird und dann auch kritikfähig bin. "

    Deshalb haben die Kuratoren des Festivals eine Auswahl getroffen: fünf Tanzproduktionen, Filme und Diskussionen zum Thema. Nicht in jedem Stück verschwindet der soziale Aspekt hundertprozentig, genauso wie Inklusion noch immer nicht Realität in unserer Gesellschaft ist. Doch mit jeder Aufführung emanzipieren sich nicht nur Künstler, sondern auch Zuschauer, die sonst nicht so einfach ins Theater gehen können. Matthias Mauersberger ist seit seiner Geburt gehörlos. Seine Gebärdendolmetscherin übersetzt uns, wie er das Stück von Joshua Monten empfunden hat:

    "Die Aufführung war sehr gut, es war ein sehr schöner visueller Eindruck für mich. Es war eben nicht nur, dass es auf die rein akustische Ader beschränkt war, sondern es waren Bewegungen darin, es war Körperausdruck drin und ich konnte es sehr gut wahrnehmen. Und dazu waren einfach die gebärdensprachlichen Elemente, die für uns Gehörlose einfach enorm wichtig sind und einfach wirklich wunderbar dargestellt wurden. Es war eine Brücke sozusagen zwischen der lautsprachlichen Welt und der gebärdensprachlichen Welt, also zwischen den Kulturen, wirklich ein großes Kompliment für diese Brücke, die geschlagen wurde."