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Kinderlähmung:

Es beginnt mit Kopfschmerzen, Fieber und Nackensteifigkeit. Schon am nächsten Tag treten Atemlähmungen hinzu, und auch die Gliedmaßen werden von Lähmungen betroffen. Allein im Jahre 1952 erkrankten an die 10.000 Kinder in Deutschland an Poliomyelitis – der Kinderlähmung. Die letzte Infektionswelle war 1961 mit 4667 Erkrankungen. Dann wurde die Polio-Impfung zur Pflicht. Schlagartig sank die Zahl der Neuinfektionen im darauffolgenden Jahr auf nur 295. Seit 1990 ist in Deutschland kein einziger Fall von Kinderlähmung mehr aufgetaucht. Das begehrte WHO-Zertikat „poliofrei“ gibt es deswegen aber nicht. Im Februar nächsten Jahres will die Weltgesundheitsorganisation entscheiden, ob Deutschland zusammen mit den Ländern der „Region Europa“ als „poliofrei“ erklärt werden kann.

Michael Engel | 18.12.2001
    Es beginnt mit Kopfschmerzen, Fieber und Nackensteifigkeit. Schon am nächsten Tag treten Atemlähmungen hinzu, und auch die Gliedmaßen werden von Lähmungen betroffen. Allein im Jahre 1952 erkrankten an die 10.000 Kinder in Deutschland an Poliomyelitis – der Kinderlähmung. Die letzte Infektionswelle war 1961 mit 4667 Erkrankungen. Dann wurde die Polio-Impfung zur Pflicht. Schlagartig sank die Zahl der Neuinfektionen im darauffolgenden Jahr auf nur 295. Seit 1990 ist in Deutschland kein einziger Fall von Kinderlähmung mehr aufgetaucht. Das begehrte WHO-Zertikat "poliofrei" gibt es deswegen aber nicht. Im Februar nächsten Jahres will die Weltgesundheitsorganisation entscheiden, ob Deutschland zusammen mit den Ländern der "Region Europa" als "poliofrei" erklärt werden kann.

    Seit vier Jahren - seit 1997 – wird in Deutschland das WHO-Programm "Polioeradikation" aktiv umgesetzt. Eradikation heißt "dauerhafte Beseitigung" – und dauerhaft sollen die Polioerreger vernichtet werden. Eine "Nationale Kommission für die Polioeradikation", bestehend aus Virologen und Pädiatern, wurde 1997 gegründet. Sie kontrolliert die Maßnahmen in Deutschland. Die WHO stellt eine ganze Reihe verschiedener Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um das Zertifikat "poliofrei" zu erhalten. Dazu der Kommissionsvorsitzende, Prof. Adolf Windorfer, vom Niedersächsischen Landesgesundheitsamt:

    Die erste Voraussetzung ist eine sehr hohe Durchimpfung der Kinder und Jugendlichen gegen Polio. Die zweite Voraussetzung ist das Existieren eines Überwachungssystems, mit dem man schnell nachweisen kann, dass eine Polioinfektion eingeschleppt wurde, aus einem afrikanischen Land - aus Indien – und die dritte, dass sichergestellt ist, dass aus einem Labor, das mit Polioviren arbeitet – das ist zum Beispiel im Desinfektionsbereich üblich – dass aus diesen Labors keine Polioviren entweichen können, und so – praktisch durch die Hintertür – wieder in die Bevölkerung dringen.

    Dreh- und Angelpunkt der Polioeradikation ist ein Meldesystem. Es gilt: alle Erkrankungen zu erfassen, die polio-ähnliche Symptome zeigen. Bestimmte Hirnhautentzündungen zum Beispiel gehören dazu. Betroffene Kinder müssen – nach den Vorgaben der WHO – umfangreich diagnostiziert werden – bis hin zu Stuhlanalysen im Robert-Koch-Institut Berlin. Denn: nur in diesen Proben lassen sich Polioviren nachweisen. Ein negativer Befund gilt als schlüssiger Beweis dafür, dass keine Polio-Viren im Spiel waren. Schutzimpfungen, so Prof. Hans-Wilhelm Dörr – Virologe an der Universität Frankfurt – sind die zweite wichtige Säule im Eradikationsprogramm:

    Ja genau, es muss jetzt noch die Impfung einige Jahre weiterlaufen. Das ist bei uns so gelöst, dass wir den Kinderimpfstoffen noch den Polioimpfung beifügen, wir sozusagen eine Impfung im Kombipack haben, die auch gegen Poliomyelitis wirkt, und selbstverständlich brauchen wir eine hohe Durchimpfungsrate von über 90 Prozent, damit nicht ein eingeschleppter Poliofall der Anfang einer Epidemie werden kann

    Zum Glück sind mehr als 90 Prozent der Kinder in Deutschland gegen Polio geimpft. Bei näherem Hinsehen fallen jedoch große Unterschiede auf: Kinder ausländischer Mitbürger besitzen nur zur Hälfte einen Impfschutz – wie Schuleingangsuntersuchungen gezeigt haben. Dringender Appell: Nachimpfen!

    Also, wir können das durch Blutuntersuchungen feststellen, das wird auch häufig gemacht, gerade bei Leuten, die in die Ferne reisen, wo es ja noch Poliomyelitis gibt. Da untersuchen wir auf sogenannte Abwehrstoffe – Antikörper – kein Problem. Aber noch viel preiswerter ist einfach eine neue Impfung. Man geht einfach zum Kinderarzt oder ins Gesundheitsamt und lässt sich vorsorglich noch einmal impfen. Eine Impfung zuviel schadet nicht, man kann da gar nicht zu viel geimpft werden da kann nichts passieren.

    Mit Deutschland werden am 25. Dezember auch alle anderen Länder Europas ihre Überwachungsdaten an die WHO geben. Länder wie Russland, Albanien und Bulgarien mussten in den vergangenen Jahren immer wieder mit Polioerkrankungen fertig werden. Der WHO-Beauftragte, Dr. Anton van Loon – Virologe im University Medical Center Utrecht – zeigt sich aber optimistisch, dass diese Länder die Prüfung ebenfalls bestehen.

    Auch in Ländern wie Russia oder Albanien oder Bulgarien hat man das Poliovirus überwunden. Die Frage ist nur: Haben die auch die guten Daten, die überzeugend sind, um zu akzeptieren, dass man das wirklich geschafft hat. Und ich glaube schon, dass sie Poliovirus überwunden haben.

    Doch nicht einzelne Länder werden von der WHO zertifiziert, sondern Kontinente. Wenn dann im Februar nächsten Jahres die Entscheidung der WHO fällt, kann es nur heißen: Europa ist poliofrei - oder eben noch nicht. Unabhängig vom Endergebnis: für Deutschland ist es das erste Mal, dass eine Kommission aus Sachverständigen ein klares Votum zur "Poliofreiheit" abgeben wird. Noch einmal Kommissionspräsident, Prof. Adolf Windorfer:

    Mit dem einmaligen Zertifikat ist der Prozess nicht beendet. Denn wir steuern ja darauf hinaus, die gesamte Welt, alle Kontinente als "poliofrei" zu bekommen. Das heißt: Poliovirus darf überhaupt nicht mehr da sein, überhaupt nicht mehr zirkulieren. Dann können auch die Polioimpfungen ausgesetzt werden, das ist ja das Fernziel dabei.