Während seines Studiums hörte der Schweizer Pianist Christian Erny ein kurzes Stück. Er konnte es allein durchs Zuhören nicht richtig einordnen: Wer hatte es komponiert? und wann? Unabhängig davon: Es faszinierte ihn.
Musik: Lullaby - Arthur Lourié
Die musikalische Textur ist eher einfach, es wäre gut möglich, dass es erst vor kurzem geschrieben wurde als Auswuchs des aktuellen Trends New Classic. Tatsächlich hat dieses Stückchen Arthur Lourié komponiert, 1917, es ist ein Wiegenlied. Von diesem Komponisten hatte Christian Erny vorher noch nichts gehört oder gelesen, diese Musik beschäftigte ihn aber und so hat er einige Jahre später, also vor wenigen Monaten eine CD aufgenommen, die sich ausschließlich Klavier-Werken von Arthur Lourié widmet.
Geboren in Russland, Zwischenstation in Frankreich, gestorben in Russland
Tatsächlich ist Arthur Lourié ein interessanter Fall. Sein Name lässt es nicht mehr erahnen, aber der Komponist ist 1891 in Russland geboren, als Naum Israilewtisch Lurja. Mit Anfang 20 wählte er den Kunstnamen Arthur Vincent Lourié für sich, beeindruckt von Arthur Schopenhauer und Vincent van Gogh. Mit Anfang 30 verließ er Russland - warum das erzähle ich später - und ging nach Frankreich. Aber auch Frankreich musste er 1941 verlassen und er zog in die USA, dort starb er 1966. Musikalisch kompositorisch hat Lourié sich immer wieder verändert, hat mit verschiedenen Stilen experimentiert. Heute ist er weitestgehend unbekannt und Christian Erny wollte dieser Lücke etwas entgegensetzen.
Kompositionen von 1908 bis 1928
Der Schweizer Pianist beleuchtet mit seiner CD den jungen Lourié, die späteste Komposition auf dem Album ist von 1928, geschrieben in Frankreich. Die früheste, das op.1, hat Lourié zwischen 1908 und 1910 geschrieben, noch als Teenager. Es sind cinq préludes fragiles, fünf zerbrechliche Preludes. Mit diesen Stimmungsskizzen bewegt sich Lourié im Stil der russischen Spätromantik, überwiegend schwermütig, stellenweise sehnsuchtsvoll verträumt oder kurzzeitig vorsichtig beschwingt. Christian Erny fängt den Charakter dieser fragilen Stückchen gut ein, die emotionale Botschaft teilt sich unmittelbar mit; manchmal wäre es allerdings schön, er würde die Töne auch mehr leuchten lassen, einen lichten Moment klangfarblich auskosten.
Musik: Tendre, pensif. Aus den Cinq Préludes fragiles - Arthur Lourié
Insbesondere Claude Debussy hat Lourié stark beeinflusst und mit seinem op.2 "Estampes" verweist er ganz direkt auf diese Inspirationsquelle. Debussys kompositorisch wegweisenden Klavierstücke "Estampes" sind 1903 erschienen, ein paar Jahre später schrieb Lourié sein "Crépuscule d'un faune" - noch ein Hinweis auf Debussy, auf sein Orchesterstück "L'après-midi d'un faune". Lourié experimentiert in seinem Estampe mit den Möglichkeiten des Klaviers, mit Debussy'schen Klangeffekten und Harmonien.
Musik: Crépuscule d'un faune aus Estampes, op.2 - Arthur Lourié
Arthur Lourié schloss sich dann den russischen Futuristen an, einer avangardistischen Kunstbewegung, die sich um 1914 gebildet hatte und die alle drei Formen: Wort, Bild und Ton radikal neu denken wollte. Und in diesem Sinne experimentierte Lourié auch mit Vierteltönen, mit Zwölftonkomplexen oder mit ungewöhnlicher Notation. Hier ein kurzer Eindruck dieser Musik, gespielt von Thomas Günther.
Musik: Mesuré aus Synthèses - Arthur Lourié
Diese Schaffensphase lässt der Schweizer Pianist Christian Erny leider ganz aus, dabei liegt sie innerhalb des Zeitraums, den er für sein Album ausgesucht hat. Das macht die CD homogen, aber damit wird sie der Vielseitigkeit von Arthur Lourié nicht gerecht. Und Platz auf der CD hätte es auch noch gegeben.
Adieu, Russland
Lourié hat nach der Oktoberrevolution in Russland ein leitendes Amt übernommen, er war Volkskommissar für Musik. In dieser Funktion wollte er - ganz im Sinne der Futuristen - die Freiheit der Kunst und der Künstler wahren, musste aber feststellen, dass die Toleranz für stilistische Vielfalt auf der politischen Ebene nachließ. Und so kehrte er von einer Dienstreise nach Berlin 1922 nicht wieder zurück und wurde daraufhin in Russland zur persona non grata. Aus der russischen Musikgeschichte wurde Lourié einfach gestrichen.
Frankreich nahm den Komponisten auf und in Paris lernte er Igor Strawinsky kennen und es entwickelte sich eine Freundschaft. Lourié ließ sich vom aktuellen musikalischen Stil in Frankreich beeinflussen und komponierte jetzt neoklassizistisch. Als gutes Beispiel hierfür dient seine Gigue von 1927. Mit dem Titel greift Lourié im Sinne des Neoklassizismus die barocke Form der Gigue auf, füllt sie mit einer zeitgemäßen, mechanischen Musiksprache und zeigt hier überraschend groovige Qualitäten. Christian Erny lässt sich mit Spaß darauf ein.
Musik: Gigue - Arthur Lourié
Der Schweizer Pianist hat auch eine kleine Suite ausgesucht, die diese neoklassizistische Phase von Lourié repräsentiert, gleichzeitig eine Phase, in der seine Musik nicht durch und durch melancholisch wirkt. Aber schon kurze Zeit später kommt diese Stimmung wieder in seinen Werken durch. Trugen die frühen Préludes fragiles so eine jugendliche Melancholie in sich, so lotet seine spätere Komposition Nocturne dieses Gefühl farbenreicher, motivisch ausgefeilter und harmonisch vielfältiger aus.
Musik: Nocturne - Arthur Lourié
Arthur Lourié musste Frankreich 1941 wegen der Nationalsozialisten verlassen, seine Eltern waren Juden gewesen, er selbst war zum katholischen Glauben konvertiert. Die Erinnerung an ihn verblasste in Europa allmählich, während er in den USA noch weiter komponierte, aber keinen besonderen Erfolg landete. Im Oktober 1966 starb Lourié in Princeton.
Erfreuliches Wagnis
Diese CD mit Klavierwerken von Arthur Lourié ist die zweite Veröffentlichung von Christian Erny als Pianist. Der Schweizer tritt nämlich auch als Chordirigent auf, mit den Zurich Chamber Singers. Sein erstes Klavier-Album hatte er Werken von Debussy und Liszt gewidmet, dass er jetzt nur Lourié spielt ist ein erfreuliches Wagnis. Denn: Erny ist als Pianist noch nicht besonders bekannt und üblicherweise wollen sich junge Künstler mit dem gängigen Repertoire einen Namen machen. Der Schweizer geht einen anderen Weg und beschäftigt sich lieber mit Arthur Lourié, teilt seine Entdeckung und seine Begeisterung mit uns. Schade nur, dass er dabei die futuristische Phase von Lourié nicht auch vorstellt, zumindest sie anklingen lässt - sie gehört unbedingt auch zu diesem Komponisten, der seinen eigenen Stil immerzu in anderen Stilen gesucht hat. Und dabei sein Eigenes, eine poetische, expressive Qualität erahnen lässt.
Arthur Lourié
Klavierwerke
Christian Erny, Klavier
Ars Production
Klavierwerke
Christian Erny, Klavier
Ars Production