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Kohle statt Kirche

Im Oktober 2007 bewegte der Umzug eines kleinen Gotteshauses eine ganze Region. Die Emmauskirche aus dem sächsischen Heuersdorf wurde ins 12 Kilometer entfernte Borna transportiert. Heuersdorf und 66 weitere Ortschaften mussten weichen, weil unter der Region etwa 50 Millionen Tonnen Braunkohle liegen.

Von Ronny Arnold | 10.09.2009
    "Ich glaube die Kirche ist angekommen, als kulturhistorisches Denkmal, aber ich denke auch als spiritueller Ort. Und ich bin ganz froh, dass die Mittwochsgebete stattfinden, weil eben dann die Kirche nicht nur Museum ist, sondern wirklich auch als spiritueller Ort genutzt wird."

    Gina Blüthner ist seit vielen Jahren in der katholischen St.-Josephs-Gemeinde zu Borna aktiv. So oft es ihr Job im Einwohnermeldeamt zulässt, besucht sie das Mittwochsgebet in der kleinen Emmauskirche – immer Punkt 12, für eine gute halbe Stunde. 18 Gläubige sind heute zur Mittagsandacht gekommen – bevor Gina Blüthner das Gebet mit ihrer Gitarre begleitet, schließt sie die schwere Eichentür und hängt ein kleines Schild auf: Gottesdienst. Zurzeit keine Besichtigung möglich.

    Die Emmauskirche ist klein, nur etwa 60 Menschen passen in die wenigen hölzernen Bankreihen. Das Gotteshaus wird seit über einem Jahr wieder regelmäßig genutzt, für die Mittwochsandachten, ab und an für Sonntags-Gottesdienste, aber auch für Taufen, Goldene Hochzeiten oder Lesungen. Der Innenraum wirkt hell und freundlich, alles ist hübsch restauriert, vom Dachstuhl bis zur Außenfassade. Auch Pfarrer Michael Gärtner, seit dem Umzug für das Gotteshaus zuständig, sitzt in der Mittagsandacht. Nach dem Gebet berichtet er von den umfangreichen Restaurierungsarbeiten, die alle die Mitteldeutsche Braunkohlegesellschaft als Verursacher des Umzugs bezahlen musste. Kosten für die Mibrag insgesamt, inklusive Transport der Kirche von Heuersdorf nach Borna: drei Millionen Euro.

    "Nachdem sie hier angekommen ist, wurde sie innen und außen saniert. Hier im Inneren wurde alles aufs Feinste restauriert, nach denkmalpflegerischen Gesichtspunkten. Und es sind ein paar Details, die sich verändert haben. Zum Beispiel haben wir nicht mehr den alten Kohleofen hier in der Ecke, sondern jetzt eine schöne Kirchenheizung. Die Orgel, die während des Transportes ausgebaut war, die wurde auch erneuert und jetzt erklingt sie wieder."

    Als die Emmauskirche vor knapp zwei Jahren hier auf dem Martin-Luther-Platz abgesetzt wurde, wenige Meter neben der großen Stadtkirche St. Marien, wussten die meisten Bornaer nicht so recht, was sie mit dem Gotteshaus anfangen sollen. Wer heute auswärtige Besucher empfängt, führt diese gern und voller Stolz hierher. Täglich zwischen 10 und 18 Uhr werden Rundgänge angeboten. ABM-Kraft Udo Hagenberg, der fast täglich durch die Kirche führt, hat schon Neugierige aus allen Teilen der Welt begrüßen dürfen – vor allem wegen der großen Medienpräsenz damals.

    "Wir haben die Woche ungefähr 700 Gäste, ob aus Mexiko, aus Kanada, Australien oder Simbabwe, genauso aus den Alten Bundesländern. Und mittlerweile haben sich auch viele daran gewöhnt, dass sie auch wissen, warum sie hier steht. Dass sie heute vor allem hier steht für alle Orte, die hier in der Region teilweise oder ganz der Kohle weichen mussten, das hat einige wachgerüttelt. Und sie steht für alle, die ihre Heimat verlassen mussten, auch aus anderen Gründen."

    Den Begriff Heimat hört man beim Besuch der alten Emmauskirche oft, sie steht vor allem für den Verlust der Heimat durch die Kohle. Im Innenraum erinnert eine große Tafel nicht nur an das fast verschwundene Heuersdorf, sondern an insgesamt 66 Ortschaften, die seit 1933 zum Teil oder ganz abgebaggert wurden. 23.000 Menschen haben dadurch ihre Heimat verloren und mussten wegziehen. Zu DDR-Zeiten ein Tabuthema, so Pfarrer Gärtner. Heute, auch dank der Emmauskirche, nicht mehr.

    "Viele wissen gar nicht, wie viele Orte betroffen waren. Und jetzt stehen die Leute an der Tafel und erinnern sich. Und das ist doch eine gute Sache, dass diese Kirche da ist und die Menschen herkommen können, etwas aufarbeiten können, was sie in den letzten 30, 40, 50 Jahren nicht besprechen konnten."

    Für die Heuersdorfer selbst ist das Ereignis noch frisch, ihr Ort steht ganz unten auf der Tafel. Erst vor wenigen Monaten haben die letzten Bewohner die einstige 320 Seelen-Gemeinde verlassen.

    Eckhard Schramm hat 61 Jahre in Heuersdorf gelebt. Seit einem Jahr wohnt der 62-Jährige nun am Stadtrand von Frohburg in einer neuen Wohnsiedlung, nur wenige Autominuten südlich von Borna. Passende Adresse: Heuersdorfer Str. Nummer sieben. Der Frührentner sitzt im Schatten seines neu gebauten Hauses, im frisch begrünten Garten plätschert ein kleiner Teich, in der Ecke schläft Charlie, der Wachhund. Alles durchaus idyllisch mit genügend Freiraum, 120 Quadratmeter Wohnfläche, 1100 Quadratmeter Grundstück.

    "Etwas Neues ist immer etwas Schönes, da gibt es gar keine Frage. Vom Wohnungsumfang hatte ich in Heuersdorf genau so eine große Wohnung wie hier. Was sich verbessert hat, ist, das war mein Wunsch, man wird ja älter, dass man keine Treppe mehr steigen muss. Und dass wir mit Erdwärme heizen und nicht mehr von solchen Brennstoffen abhängig sind. Das Weitläufige um die Grundstücke herum, das Grün, die Bäume, das ist eben hier im Moment noch nicht. Das Gras ist gewachsen, na ja, über die andere Sache mit Heuersdorf, da dauert es noch eine Weile, bis da Gras drüber gewachsen ist. Aber irgendwann müssen wir auch drüber wegkommen."

    Eckard Schramm hat sich mit dem Umzug abgefunden, irgendwie – dass die Gedanken an sein altes Heimatdorf schmerzen, hört man aus vielen seiner Sätze heraus. Ein paar Erinnerungsstücke hat er gerettet – und wenn er zu Hause sagt, dann meint er nicht Frohburg, sondern Heuersdorf.

    "Ein Stückchen Zaun haben wir noch von zu Hause mitgenommen, das muss hier noch dran, aber das ist ja Vergangenheit. Und das ist mein Treppengeländer, das muss ich noch umbauen. Das will ich im Garten hinsetzen und da wollen wir paar Blumen dran hochranken lassen."

    Das neue Haus und das Grundstück haben die Schramms von den Entschädigungsgeldern der Mibrag bezahlt. Es hat gereicht, um zu bauen und sich schön einzurichten – vor allem, weil sie in Heuersdorf knapp 2000 Quadratmeter Grundbesitz hatten. Trotzdem könne ihn für den Verlust seiner Heimat niemand wirklich entschädigen, so der 62-Jährige, das habe er vor vier Wochen, bei seinem vorerst letzten Besuch zu Hause, wieder feststellen müssen.

    "Ich habe mir vorgenommen, nicht wieder hinzugehen. Es ist deprimierend, schrecklich, ganz grausam ist das. Bloß noch unser Haus steht da, kein Baum, kein Strauch. Und wenn Sie dann die Leute sehen, die ihr ehemaliges Zuhause und ihre Heimat zerstören, zerschlagen, also da blutet einem das Herz."

    Neben dem Haus von Eckhard Schramm und seiner Frau stehen noch sieben weitere Einfamilienhäuser, alles ehemalige Heuersdorfer. Insgesamt 17 von ihnen sind hier nach Frohburg gezogen, zwei weitere, größere Siedlungen gibt es im nahegelegenen Regis-Breitingen und in Hagenest. Ursprünglich wollten sie alle an einen Ort ziehen, doch der 15 Jahre dauernde Streit mit der Mibrag hat die Dorfgemeinschaft letztendlich zerbrechen lassen.

    "Der Zusammenhalt, der früher da war, ist dann gebröckelt. Da hat der heimlich getan und der heimlich getan, was es erst nicht gegeben hat. Und so ist die ganze Struktur kaputt gegangen. Und am Ende war es dann ein Leichtes für die Mibrag, uns kaputtzumachen. Also das Geld hat viel Schaden angerichtet."

    Eckhard Schramm wünscht sich nun vor allem eines, Ruhe nach den vielen, anstrengenden Jahren, besonders vor der ungeliebten Mibrag. Umziehen will er nie wieder und hofft inständig, dass unter seinem neuen Grundstück nicht irgendwo auch noch Kohle liegt. Er sagt es mit einem Lächeln im Gesicht, meint es aber bitterernst. Und die Heuersdorfer Kirche? Die hätte er gern hier in Frohburg gehabt, ist aber leider nichts draus geworden – wegen der vielen Streitigkeiten. Und besuchen mag er sie nun auch nicht mehr.
    "Ich war einmal dort, seitdem sie dort steht. Ich hab einfach nicht das Bedürfnis hinzugehen, weil sie mir persönlich nicht mehr gefällt. Mir ist die zu modern aufgepeppt. Ein bisschen mehr Respekt vor der alten Dame hätte ich mir gewünscht. Es ist gut, dass sie erhalten ist. Wir hätten sie auch gern hier gehabt, die hätte schön hier auf dem Platz ausgesehen, hätten wir keinen Dorfteich gebraucht."