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Konzeptalben junger Liedsänger
Autobiographische und intellektuelle Experimentierlust

Junge Sängerinnen und Sänger suchen neue Wege, um Lust auf das Kunstlied zu machen. Etwa seit gut einem Jahrzehnt mit Konzeptalben. Neu ist die intellektuelle und autobiographische Experimentierlust, mit der dies geschieht. Beste Beispiele dafür: das Album „Heimat“ von Benjamin Appl und die Winterreise-Edition von Julian Prégardien.

Von Dagmar Penzlin | 01.03.2017
    Der Tenor Julian Prégardien beim Benefizkonzert von Carus und SWR2 im Jahre 2012
    "Winterreise"-Projekt für digitalen Salon: Der Tenor Julian Prégardien (SWR / Dagmar Munck)
    Frühlingslieder passen gut zu aufstrebenden Liedsängern. Warum Benjamin Appl dieses Stück von Hugo Wolf für sein Album "Heimat" ausgewählt hat, überrascht aber doch: Es erinnert ihn an Frühlingstage seiner Kindheit in der Nähe von Regensburg, wenn es – so im Beiheft zu lesen - "nach langen Wintermonaten endlich wieder zum Spielen nach draußen ging". Der Bariton hat die 25 Lieder nach Schlagworten sortiert. Wolfs Frühlingslied gehört in die Kategorie "Wurzeln", und wenn es um "Menschen" als Heimat geht, singt er unter anderem Franz Schuberts "Nachtstück". Ein alter Mann ist hier bereit zum Sterben.
    Ungefiltert und direkt
    In einem sehr persönlichen Text schildert Benjamin Appl, wie es ihm erging, als er dieses Lied nach dem Tod von zwei seiner Großeltern im Jahr 2014 wieder sang. Die beiden standen ihm sehr nah. Es ist ungewöhnlich, wie ungefiltert und direkt Benjamin Appl seine Lied-Auswahl erklärt. Warum sich hier Lieder von Schubert und Wolf, von Richard Strauss und Johannes Brahms, von Franz Schreker und Francis Poulenc aneinander reihen, das hat mit ihm und seiner Biographie zu tun. Wie Appl das vermittelt, geht tiefer als das übliche Geschichten-Erzählen, das mittlerweile zum Marketing von klassischen Musikern gehört. Appl spielt den Ball an uns zurück. Sein Album ist eine Einladung, ihm als Persönlichkeit zu begegnen und sich selbst hörend zu reflektieren. Dazu gehört auch eine Portion Selbstironie, etwa wenn Appl – nicht ohne Augenzwinkern - im Song "Der Bachelor" von einem umschwärmten jungen Mann berichtet.
    Der smarte Mittdreißiger porträtiert im letzten Drittel des Albums seine Wahlheimat London musikalisch unter dem Stichwort "grenzenlos" – mit Liedern etwa von Benjamin Britten und Sir Henry Bishop. Das macht Appl hier wie auf dem ganzen Album hervorragend mit seinem kernig-dunklen Bariton und viel Sinn für Zwischentöne, mit seidigen Piano-Passagen und perfekter Diktion. Nur ganz wenige Töne wirken noch etwas ungeschmeidig, angestrengt. Es überwiegt der Eindruck, hier singt jemand mit einer Mission: beispielsweise um das gerade sehr aktuelle Thema "Heimat" an uns heranzutragen mit zeitlos eindringlichem Gesang.
    "Heimat" in Liedern eingefangen
    Benjamin Appl, der letzte Privatschüler von Dietrich Fischer-Dieskau, hat in James Baillieu einen gleichgesinnten, hoch kompetenten Liedpianisten gefunden. Etwas jünger als die beiden ist der Tenor Julian Prégardien, und auch er sucht nach neuen Wegen, um klassische Musik erlebbar zu machen. Im vergangenen Jahr hat er deshalb die digitale Medienplattform für Aufführungspraxis gegründet - ihr Name: P.RHÉI vom griechischen "Panta rhei" - "Alles fließt". Das erste Vorhaben: ein mehrteiliges Editionsprojekt zu Schuberts Liedzyklus "Winterreise". Julian Prégardien interessiert die Aufführungspraxis und auch die Rezeption von Kompositionen. Schuberts "Winterreise" erweist sich in dieser Hinsicht als ergiebig. Unter dem Stichwort "Inspiration" rezitiert auf der ersten CD der Edition Lotte Lehmann die "Winterreise"-Gedichte von Wilhelm Müller.
    Die legendäre Sopranistin Lotte Lehmann hat 1956 die "Winterreise"-Gedichte mit der ihr typischen Emphase aufgenommen, fünf Jahre nach ihrem Bühnenabschied. Im Beiheft finden sich Lehmanns expressive Aquarell-Zeichnungen zu den 24 Liedern des Zyklus. Als zweite Veröffentlichung folgte eine Doppel-CD mit der komponierten "Winterreise"-Interpretation von Hans Zender. Julian Prégardien singt eindringlich mit wunderbar nuancenreichem Tenor, begleitet von der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern – ein Live-Mitschnitt vom Januar 2016.
    Medienplattform für Aufführungspraxis
    Die Trilogie komplettiert ein "Winterreise"-Programm, das unter dem Stichwort "Imagination" den Liedzyklus kombiniert mit anderer Klaviermusik und Improvisationen. Pate hierfür standen historische Programmzettel aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – auf dem Podium damals: die Pianistin Clara Schumann und der Bariton Julius Stockhausen. Zwischen einzelnen Liedern erklingen da Klavierstücke von Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy und Domenico Scarlatti.
    Historische Programmzettel als Vorbild
    Erfrischend ist es, Julian Prégardien und dem erfahrenen Liedpianisten Michael Gees bei diesem Experiment zuzuhören – alles ist möglich, man muss sich nur trauen. Die drei Teile der Winterreise-Edition sind mit informativen Beiheften angereichert. Hintergrundtexte, Transkriptionen von Gesprächen – es gibt viele Anregungen, um Schuberts "Winterreise" neu zu hören. Julian Prégardien finanziert diese Edition und die Medienplattform P.RHÉI selbst. Auf der Website möchte er nach eigenen Angaben "bald" einen Digitalen Salon eröffnen, also einen Ort zum direkteren Austausch etwa über Schuberts "Winterreise".
    Prégardiens historisch wertvolle "Winterreise"-CDs und Benjamin Appls autobiographisches "Heimat"-Album - zwei Beispiele dafür, wie viel Geschichte und Geschichten die Gattung Kunstlied erzählen kann.
    Musikhinweise
    "Heimat"
    Lieder von Schubert, Brahms, Wolf, Britten u.a.
    Benjamin Appl (Bariton), James Baillieu (Klavier)
    Sony Classical 88985393032
    Winterreise–Editionsprojekt: Inspiration, Interpretation, Imagination
    1: Lotte Lehmann rezitiert die Winterreise-Gedichte von Wilhelm Müller
    2: Hans Zender, Schuberts Winterreise. Eine komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester
    Julian Prégardien (Tenor), Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern
    Leitung: Robert Reimer
    3: Franz Schubert, Winterreise – "ein Cyclus von Liedern nach Gedichten von Wilhelm Müller”; Rekonstruktion eines historischen Liederabends
    Julian Prégardien (Tenor), Michael Gees (Klavier)
    CDs sind bestellbar über Webshop auf www.prhei.com