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Krümelchen für Krümelchen

Medizin.- Es gibt Eltern, die nie ohne Adrenalinspritze aus dem Haus gehen. Grund: Ihr Kind hat eine Erdnussallergie, die im Ernstfall zum Tod führen kann. Jetzt ist es Kinderärzten gelungen, ein paar kleine Patienten zu desensibilisieren.

Von Marieke Degen | 23.08.2010
    Die Gefahr lauert überall, sogar auf dem Kindergeburtstag. Es reicht schon, wenn andere Erdnussflips essen und ein winziger Erdnusskrümel auf dem Muffin landet, den sich das Kind dann in den Mund steckt, sagt Katharina Blümchen, Kinderärztin an der Berliner Charité.

    "Dann können milde Symptome auftreten, wie zum Beispiel Lippenschwellung oder dass eine Nesselsucht, so Quaddeln entstehen, aber, das ist das Problem bei der Erdnussallergie, dass sie eben auch zu ganz schweren allergischen Reaktionen neigen können. Wie zum Beispiel Atemnot, so eine Art Asthmaanfall, oder bis hin zum allergischen Schock, wo die Kinder bewusstlos werden."

    Bei einer Erdnussallergie handelt es sich, genau wie bei anderen Allergien, um eine Überreaktion des Immunsystems. Erdnussallergiker haben spezielle Antikörper im Blut, sogenannte IgE-Antikörper. Wenn die Antikörper mit dem Erdnuss-Allergen in Kontakt kommen, lösen sie die allergische Reaktion aus. Eine Erdnussallergie ist nicht heilbar, die Betroffenen müssen strikt alle Lebensmittel meiden, die Erdnussspuren enthalten könnten.

    Katharina Blümchen und ihre Kollegen haben es jetzt geschafft, Kinder mit einer Erdnussallergie zu desensibilisieren, sie also unempfindlich gegen Erdnussspuren zu machen. Und zwar, indem sie den Kindern winzige Mengen Erdnuss zu essen gegeben haben. Eine Portion pro Tag, und das monatelang.

    "Die haben im Endeffekt zermörserte normale geröstete Erdnuss, das, was wir so in den Kaufhallen und so kaufen können, bekommen, und das ist natürlich abgewogen worden, und das haben manche Kinder pur genommen, aber die meisten haben das mit Apfelmus genommen, damit sie es überhaupt runterschlucken konnten."

    23 Kinder zwischen drei und 14 Jahren haben an der Studie teilgenommen. In den ersten Wochen war nur ein Hauch von Erdnuss im Apfelmus: sechs Milligramm. Die Dosis wurde langsam gesteigert. Irgendwann sollten die Kinder eine ganze Erdnuss vertragen können - das sind 500 Milligramm.

    "Das machten sie auch zu Hause mit Überwachung der Eltern, und alle 14 Tage sind sie dann in meine Sprechstunde gekommen und nahmen vor meinen Augen die nächst höhere Dosis ein, zum Beispiel acht Milligramm, und dann mussten sie wieder nach Hause gehen und das dann wieder jeden Tag nehmen und wieder nach 14 Tagen zu mir kommen und so haben sich die Patienten, bei denen es geklappt hat, innerhalb von sieben bis acht Monaten auf eine Erdnuss hochgehangelt, bis sie bei 500 Milligramm ankamen."

    Die Ärzte mussten damit rechnen, dass einige Kinder schwere Nebenwirkungen entwickeln. Deshalb haben sie diverse Vorsichtsmaßnahmen ergriffen. Die nächst höhere Erdnussdosis gab es immer nur in der Klinik, unter ärztlicher Aufsicht. Außerdem waren die Eltern speziell geschult, um ihrem Kind im Notfall helfen zu können.

    "Und wir hatten eine 24-Stunden-Telefonhotline, um das ganze zu überwachen und wo die Eltern uns jederzeit erreichen konnten."

    Katharina Blümchen musste vier Kinder aus der Studie nehmen, weil sie schwere Asthmaanfälle hatten. Bei den anderen waren die Nebenwirkungen nicht ganz so schlimm, einige hatten Bauchschmerzen oder ein Kribbeln im Hals. Nach etwa sieben Monaten konnten 14 der 23 Kinder problemlos eine ganze Erdnuss zu sich nehmen. Das ist genug, um Allergieattacken zu verhindern.

    "Diese Kinder, die die orale Immuntherapie durchlaufen haben, bei denen muss klar sein, dass es nicht darum geht, dass sie ein Snickers essen oder Erdnussflipps auf einem Geburtstag, sondern es geht darum, dass sie vor Spuren vor Erdnüssen geschützt sind."

    Wie genau so eine Desensibilisierung funktioniert, ist unklar. Es könnte sein, dass durch die regelmäßigen winzigen Erdnussmengen neue Antikörper gebildet werden, blockierende Antikörper. Diese Antikörper verhindern, dass die IgE-Antikörper eine allergische Reaktion in Gang setzen. Unklar ist auch, wie lange der Effekt vorhält. Ob die Kinder weiterhin jeden Tag eine Erdnuss essen müssen, um ihre Allergie in Schach zu halten, oder ob die Allergie irgendwann komplett verschwindet. Es wird noch Jahre dauern, bis die Therapie einsatzbereit ist, sagt Katharina Blümchen.

    "Diese Therapie ist noch überhaupt nicht etabliert, auf der ganzen Welt sind vielleicht maximal 100 Erdnussallergiker in solchen oralen Immuntherapiestudien eingeschlossen worden, wir können das also noch überhaupt nicht hochberechnen, wie das bei allen Erdnussallergikern aussieht."

    Die nächste Studie ist an der Charité bereits angelaufen, mit 60 Teilnehmern. Diesmal bekommen sie ihre Erdnussration in Schokoladenpudding.