Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Künstler auf der Flucht

Der nationalkonservative Regierungschef Viktor Orban hat Ungarn in den vergangenen zwei Jahren rasant umgekrempelt - der rechte Systemwechsel durchzieht alle Bereiche des öffentlichen Lebens - auch die Kultur: Viele Intellektuelle wurden in den vergangenen beiden Jahren marginalisiert oder öffentlich angefeindet. Nun verlassen immer mehr von ihnen Ungarn.

Von Keno Verseck | 01.06.2012
    Fünf Monate hielt Ákos Kertész die Hetzkampagne gegen seine Person aus. Dann wählte der ungarisch-jüdische Schriftsteller den Weg des Exils. Inzwischen lebt er in Kanada. Der 79-Jährige hat in Ungarn den Holocaust und den Stalinismus überlebt. In einer amerikanisch-ungarischen Wochenzeitung schrieb er: "Ich hoffe, dass ich eines Tages in ein demokratisches, tolerantes und menschliches Ungarn zurückkehren kann." Seitdem schweigt der Schriftsteller.

    Der Fall hat in Ungarn, aber auch im Ausland hohe Wellen geschlagen. Doch Kertész ist nicht der einzige, der Ungarn verlassen hat, seit der Premierminister Viktor Orbán an der Macht ist. Immer mehr Künstler und Intellektuelle kehren dem Land den Rücken, weil sie das kulturpolitische Klima unerträglich finden oder keine Schaffens- und Existenzmöglichkeiten mehr haben. Der Schriftsteller György Dalos beobachtet die Entwicklung mit großer Sorge.

    "Ich lebte in Ungarn jahrzehntelang in einer Diktatur und ich hätte die Möglichkeit gehabt auszuwandern. Ich habe jeden Menschen verstanden, in den 70er-, 80er-Jahren, der diese Entscheidung traf, weil er aus beruflichen oder sonstigen Gründen nicht mehr in Ungarn leben konnte. Ganz tragisch finde ich, wenn das heute geschieht."

    Was war im Fall Ákos Kertész geschehen? Im August 2011 hatte der Schriftsteller, der mit dem gleichnamigen Nobelpreisträger nicht verwandt ist, seinen ungarischen Landesleuten in einer wütenden Polemik kollektiv vorgeworfen, bis heute die Schuld am Holocaust zu leugnen. Er hatte Sätze geschrieben wie, "der Ungar" sei "genetisch ein Untertan" und fühle sich am wohlsten in Diktaturen. Der umstrittene Artikel löste in Ungarn wochenlange Kontroversen aus. Der Budapester Stadtrat erkannte Kertész sogar die Ehrenbürgerschaft ab, der Schriftsteller selbst erhielt monatelang Morddrohungen und soll sogar tätlich angegriffen worden sein. Zugleich ein "tragischer Einzelfall" und symptomatisch, sagt György Dalos:

    "Ganz Ungarn, die ganze Politik hat alle Zeichen der Hysterie. Das ist Teil einer antiintellektuellen Hysterie, die von der Regierung geschürt oder zumindest geduldet wird. Wenn in dieser Regierung nüchtern denkende Menschen wären, dann würden sie einen Brief an ihn schreiben und ihn zurück nach Ungarn rufen. Aber das tun sie nicht."

    Der Fall Kertész ist der wohl größte kulturpolitische Skandal in Orbáns neuem Ungarn. Der magyarische Regierungschef hat sein Land radikal umbauen lassen, auch im Kulturbereich. Offen verkünden er und seine nationalkonservative Partei Fidesz, dass sie die Dominanz der sogenannten Linksliberalen beenden wollen. In den Worten des Kulturstaatssekretärs Géza Szöcs klingt das so:

    "Diese Persönlichkeiten waren die Lieblinge der vorherigen Regierung. Sie waren Hofdichter und Ideologielieferanten, aber jetzt hat sich ihre Situation geändert. Es trifft sie sehr schlimm, dass es eine neue Regierung gibt und sie nicht mehr deren Lieblinge sind."

    Die Fluchtbewegung der Künstler und Intellektuellen reißt indes nicht ab, wie viele Betroffene berichten: Die Budapester Kunstkritikerin Anna Bálint erzählt, sie besuche wöchentlich Abschiedspartys von Künstlern. Auch der Religionsgeschichtler György Gábor ist einer, der am liebsten einen Lehrauftrag im Ausland annehmen würde. Der Grund: Ende letzten Jahres wurde er - 58-jährig und nur Wochen vor Erlangen des altersbedingten Kündigungsschutzes - aus dem Philosophischen Forschungsinstitut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften entlassen. Ist all das Kulturkampf auf ungarisch? Der Schriftsteller György Dalos:

    "Ich würde hier nicht das Wort Kulturkampf benutzen. Es ist kein Kampf, sondern Zerstörung. Ich sehe keine einzige Idee, ich sehe keine Visionen. Die einzige Idee scheint die Macht zu sein und alles, was die anderen haben, unterdrücken. Jetzt sehe ich nur, dass sie manche Posten haben wollen, aber die Literatur, die Kultur, der Film, das Theater interessiert sie überhaupt nicht, sie sind nicht einmal Snobs."