Freitag, 29. März 2024

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Literatur als Lebenshilfe, mal wieder ein Katzenbuch und ein Sommer ohne Männer

Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?

Von Dennis Scheck | 29.04.2011
    (10): Hans Fallada: "Jeder stirbt für sich allein"
    (Aufbau Verlag, 704 S.19,95 €)

    Hans Falladas 1946 mit schneller Feder niedergeschriebener letzter Roman ist ein moderner Klassiker, den die in der Jugend der westlichen Welt grassierende Schwärmerei für die deutsche Hartz-IV-Kapitale Berlin auf die Bestsellerliste katapultiert hat. Und dies zu unserem, der Leser Glück: wiederzuentdecken ist nämlich ein grandioses düsteres Sittengemälde aus der Nazi-Zeit, ein von der ersten Seite an mitreißender Roman über den Preis der Anpassung und des Widerstands.

    (9): Michel Houllebecq: "Karte und Gebiet"
    (Deutsch von Uli Wittmann, Dumont, 416 S. 22,99 €)

    Michel Houllebecq ist mit diesem klugen Künstlerroman ein großer Wurf der Gegenwartsliteratur gelungen: Ein hoch moralisches Buch, das die zentralen Frage nach den Werten, Tugenden und Sünden unserer Zeit stellt und auf originelle Weise auch beantwortet.

    (8): Siri Hustvedt: "Der Sommer ohne Männer"
    (Deutsch von Uli Aumüller, Rowohlt, 304, 19,95€)

    Literatur als Lebenshilfe – geht das zusammen? Und ob! Jedenfalls in diesem Roman über eine Frau Mitte 50, die von ihrem Mann betrogen und verlassen wird, daraufhin einen psychischen Zusammenbruch erleidet und tastend versucht, während eines Sommers bei ihrer Mutter wieder auf die Beine zu kommen. Hustvedts Stärke ist ihr Verzicht auf billigen Trost und fromme Lügen. Oder wann haben Sie zuletzt einen unterhaltenden Roman gelesen, in dem Sätze stehen wie:

    "Wir alle sterben, einer nach dem anderen. Wir können nichts dagegen tun, außer vielleicht ein Lied anzustimmen."

    (7): Elke Heidenreich, Quint Buchholz: "Nero Corleone kehrt zurück"
    (Hanser, 80 S.13,90 €)

    Illustrierte Erzählungen über Katzen zählen nicht zu meinen Lieblingslektüren. In dieser hier feiert der dreiste Kater Nero Corleone ein Comeback, und ein Schlüsselsatz darin lautet:
    "Ach, alles nicht so einfach, das." Und so bleibe ich zwar, was Literatur angeht, unbedingter Anhänger der überfälligen Katzensteuer, also einer Kater-Murr-Abgabe von mindestens einem Euro pro Katze pro Roman, gebe aber zu, dass mich Elke Heidenreichs "Nero Corleone kehrt zurück" von der ersten Seite an durch Lebensklugheit und schlagenden Witz um den Finger gewickelt und sehr gut unterhalten hat.

    (6): Sarah Lark: "Im Schatten des Kauribaums",
    (Lübbe, 829 S., 15,99 €)

    Die unter einem englischen Pseudonym schreibende deutsche Autorin Sarah Lark befrachtet ihre ruppige Neuseeland-Saga mit allem, was derzeit auf der Agenda der Aufklärung steht: der Kampf entrechteter und enteigneter Maoris, das Ringen um die Emanzipation der Frau, der lange Weg zur Gleichberechtigung Homosexueller, der Respekt vor dem Tier – fehlt bloß noch vegane Ernährung und die Sorge um die CO2-Bilanz. Falsch ist daran nichts, nur verliert dieser 829 Seiten zählende historische Schmöker, indem er seinen Figuren solche heutigen Bewußtseinsinhalte überstülpt, jede literarische Glaubwürdigkeit,

    (5): Arno Geiger: "Der alte König in seinem Exil",
    (Hanser, 192 S. 17,90 €)

    Noch einmal Literatur als Lebenshilfe: Auf der Oberfläche handelt Arno Geigers "Vater-Buch" davon, was eine Demenzerkrankungen in einem Menschen und seinem Umfeld auslöst. Bei genauerem Nachdenken ist ein Buch darüber, was uns zu Menschen macht.

    (4): Paulo Coelho: "Schutzengel",
    (Deutsch von Maralde Meyer-Minnemann, Diogenes, 198 S. 29,90 €)

    Dieses komplett durchgeknallte, esoterisch-okkultische Machwerk über den Versuch, mit Engeln in Kontakt zu treten, nimmt geschmackloser Weise seinen Ausgangspunkt in einer Begegnung im Konzentrationslager Dachau und spielt dort, wo man sich während der Lektüre schon angelangt wähnt und den Autor dringend hinwünscht: in der Wüste.

    (3): Horst Evers: "Für Eile fehlt mir die Zeit"
    (Rowohlt Berlin, 224 S. 19,95 €)

    Programmierbare Kaffeevollautomaten, Wecker mit Schlummertastenfunktion, verwirrende Wahlmöglichkeiten an Bahnhofsimbissen: Die Gegenstände, auf die Horst Evers seinen vom-Hölzchen-aufs-Stöckchen-Humor anwendet, entstammen häufig den alltäglichen Überforderungen der Moderne. Vielleicht liegt deshalb so etwas Greisenhaftes über dieser Komik. Wegen Büchern wie diesem ist der deutsche Humor international gefürchtet.

    (2): Carlos Ruis Zafon: "Marina"
    (Deutsch von Peter Schwaar, S. Fischer,, 352 S., 19,95 €)

    Auf Seite 293 dieses lahmen Versuchs einer Wiederbelebung der "gothic novel", also des romantischen Schauerromans also, steht der Satz:

    "Wir haben seine Leiche in einem Kanal unter dem Barrio Gotico gefunden ... Das heißt, was von ihm übrig war, denn er war zu einer Ausgeburt der Hölle geworden, die nach dem Aas stand, aus dem er sich konstruiert hatte."

    Genau an dieser Stelle müssen die Lektoren des S. Fischer Verlags auch das Manuskript dieses Romans gefunden haben.

    (1): Simon Beckett: "Verwesung"
    (Deutsch von Andrea Heese, Wunderlich, 448 S., 22,95 €)

    Ein flüchtiger Mädchenkiller mit Superkräften, ein acht Jahre zurückliegender Vierfachmord, das nebelverhangene Dartmoor: der neue Fall des forensischen Anthropologen David Hunter liest sich wie eine Mischung aus Edgar Wallace und Patricia Cornwell. Nur was Spannung und Suspense anlangt, wird diese Ansammlung von Krimiklischees, hölzernen Dialogen und zweidimensionalen Charakteren von jedem Mainzelmännchenspot übertroffen.