Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Lucys Baby

Paläoanthropologie. - Mehr als 3,3 Millionen Jahre lag ein Fossil verborgen in Sandsteinen in einer Region in Äthiopien, die Dikika heißt. Im Jahr 2000 entdeckte dann ein Forscherteam erste Knochenteile. Jahrelang entfernten die Wissenschaftler mühevoll die Erde von den Knochen - und enthüllten sie nicht nur den sensationellen Fund eines beinahe komplett erhaltenen Kinder-Skeletts, sondern fanden auch neue Indizien über Körperbau und Leben unserer frühesten Vorfahren.

Von Dagmar Röhrlich | 21.09.2006
    In der frühen Menschheitsentwicklung gibt es so gut wie keine Fossilien von Kindern. Mit einer Ausnahme: das berühmte Taung-Baby, das 1924 in Südafrika gefunden worden ist. Das lebte vor 2,5 Millionen Jahren und gehörte zu den Vormenschen, den Australopithecinen. Aber wir kennen nur seinen Schädel. In Äthiopien ist nun die entfernte "Kusine" des Taung-Babys gefunden worden: das 3,3 Millionen Jahre alte Skelett eines dreijährigen Mädchens. Dieses Baby gehört zu der Vormenschenart Australopithecus afarensis - übrigens genau wie ein anderes berühmtes Fossil aus Äthiopien: Lucy.

    "”Wir haben das Kind in einer dicken Sandsteinlage entdeckt, die vor 3,3 Millionen Jahren in einem Flussdelta entstanden ist. Damals mündete dort ein Fluss in einen See. Das Kind, das wohl ein Mädchen war, ist von einer Flutwelle mitgerissen und schnell von Sand bedeckt worden. Vielleicht starb es sogar durch diese Flutwelle.""

    Zeresenay Alemseged vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig ist es gelungen, das fast vollständige Kinderskelett zu bergen und aus dem Stein zu befreien:

    "”Wir haben den Schädel und das Gesicht. Wir können die Milchzähne sehen und die bleibenden Zähne, die noch im Kiefer stecken. Wir haben fast alle Wirbel, Rippen und Schulterblätter. Wir haben Ellbogen, Hände, Beinknochen und einen fast kompletten Fuß, bei dem nur die Zehenspitzen fehlen.""
    Fred Spoor vom University College in London. Die Paläoanthropologen haben das Gebiss des Kindes mit dem von jungen Schimpansen verglichen. Sie schätzen sein Alter auf etwa drei Jahre. Der Schädel erlaubt auch Rückschlüsse auf das Gehirn:

    "”Im Großen und Ganzen gleicht das Gehirn unseres dreijährigen Australopithecus dem eines dreijährigen Menschenaffen. Das überrascht nicht, schließlich ist das Gehirn eines erwachsenen Australopithecus kaum größer als das eines Gorillas oder Schimpansen. Aber es gibt etwas Besonderes. Die Gehirne von Affen wachsen schneller als die von Menschen. Bei einem dreijährigen Kind heute haben sich etwa zwei Drittel des erwachsenen Gehirns gebildet, während das eines gleichaltrigen Primaten fast fertig ist. Beim Dikika-Kind liegt das Gehirnwachstum zwischen dem unseren und dem der Menschenaffen. Es könnte also langsamer und damit menschenähnlicher gewesen sein als bei Schimpansen oder Gorillas.""
    Allerdings kann der Befund täuschen, schränkt Fred Spoor ein. Das Gehirn kann beispielsweise einfach auch deshalb kleiner sein, weil das Mädchen schlecht ernährt war. In einer anderen Frage spricht das Kinderskelett eine deutliche Sprache. Spoor:

    "”Dank dieses Skeletts haben wir nun Knochen, die wir bislang aus diesem frühen Stadium der Menschheitsentwicklung nicht kannten, etwa die Schulterblätter oder das Zungenbein. Der ganze Oberkörper war anscheinend noch recht affenähnlich.""
    Die Schulterblätter gleichen am ehesten denen eines jungen Gorillas. Wie bei einem Primaten sind auch die Gleichgewichtsorgane im Innenohr. Und auch die gebogenen Finger sind perfekt fürs Greifen nach Affenart. Der Unterkörper hingegen ist eindeutig für das zweibeinige Laufen gemacht. Auf dem Boden bewegte sich Australopithecus also aufrecht fort. Aber unsere Ahnen scheinen daneben das Hangeln in den Bäumen geschätzt zu haben. Australopithecus stand zwischen Affen und Menschen, urteilt Friedemann Schrenk, Paläoanthropologe vom Forschungsinstitut Senckenberg in Frankfurt:

    "Was die Fortbewegung anbetrifft, sind es eindeutig Beziehungen zu den Menschen, die man da sehen kann, und im Bereich des Schädels und der Zähne sind es eher Beziehungen zu den Menschenaffen. Man hat angenommen, dass Australopithecus bereits relativ menschenähnlich gewesen ist, und ich denke, dass dieser Fund zeigt, dass es nicht eindeutig so ist, sondern dass es unterschiedliche Mosaikbestandteile gibt in diesem Körper, die also nicht gleichförmig sich entwickelt haben."
    Um zu entscheiden, wie weit ein Australopithecus auf dem Weg zum Menschen gekommen ist, sind weitere Analysen notwendig: nicht nur die zum Gehirnwachstum. Denn falls das Dikika-Kind wirklich viel geklettert ist, müsste sich das in der Feinstruktur seiner Schulterblätter abzeichnen.