Die Protagonisten in Katrin Dorns Roman 'Lügen und Schweigen' erfüllen Erwartungshaltungen, passen sich an, wollen niemandem weh zu tun, nichts falsch machen. Sie spielen sich Höflichkeit vor, heucheln Interesse, verstecken sich hinter großen Lügen, um kleine Gefühle zu vertuschen. Vera hat ihre Eltern für tot erklärt, will ihre eigene Vergangenheit vergessen, ihr Leben in der DDR. Die entstandene Leere hat sie mit biografischen Lügen notdürftig gekittet. Doch eines Morgens beendet ein kurzer Brief der Mutter ihren gut sortierten Alltag: Veras Vater liegt im Sterben und sie muß sich beeilen, um ihn ein letztes Mal zu sehen.
Bereits im Zug kehrt Vera an den Ort ihrer Erinnerungen zurück, dorthin, wo die Fühl- und Sprachlosigkeit entstand. Sie erinnert sich daran, mit ihrem Vater alleine gewesen zu sein. Er hatte sich eingeschlossen und tagelang kein Wort gesprochen. Sie hatte sich schlecht gefühlt, überflüssig, unfähig, nicht liebenswert. "Ihre Mutter hatte ihr beigebracht, wie man Strümpfe stopft, wie man mit der halbautomatischen Waschmaschine umgeht, aber nicht, wie man sich am Sonntagvormittag mit ihrem Ehemann unterhält". Gerade an dem Tag, an dem Vera beschließt, ein fröhliches Kind zu sein, tötet sie den Hund des Vaters, den süßen Terrier, den er so liebt. Sie lügt ihren Vater an; das Tier sei aus dem Fenster gesprungen. Auch in der Klasse verbreitet sie die Geschichte vom Selbstmord des Hundes, so lange, bis sie selber daran glaubt. Sie lernt, daß Lügen besseren Anklang finden als die traurige Wahrheit und von nun an erfindet sie Geschichten, mit denen sie das Schweigen ihres Vaters auffüllt und ihm Leben einhaucht. Die Lügen werden zum Ersatz für das, was sie nicht weiß, worüber niemand spricht.
Die Erinnerungen rufen in Vera erneut Angstzustände wach und sie wünscht sich, der Vater wäre bereits tot, um eine Konfrontation mit ihm zu vermeiden. Doch von ihren eigenen Gedanken erschrocken, beschließt sie, sich mit dieser Reise auf die Suche nach ihrer emotionalen Wahrheit zu begeben und sich mit ihrem Vater auszusprechen. Vera scheitert. Noch am Sterbebett verbietet der Vater ihr mit seinen letzten Worten den Mund. Dazu Katrin Dorn:
"Er ist ja bis zum letzten Moment nicht fähig, über die Dinge zu reden, die in ihm am absolut stärksten präsent sind und vorgehen. Dieses 'halt die Klappe' macht nicht nur sie einsam, es macht auch ihn selbst unheimlich einsam.
Erst nachdem der Vater tot ist, erfährt Vera, daß er in den Westen ausreisen wollte, doch zwei Monate vor dem Mauerbau kommt sie zur Weit und an einen Umzug ist nicht zu denken. Er wird Opfer der Ereignisse der aktuellen Tagespolitik. Die Willkür der Macht durchkreuzt seine privaten Pläne: Die Mauer wird gebaut und er dahinter eingesperrt, in sein eigenes Unglück. Er fällt in eine sprachliche Ohnmacht .Er lebt im unterdrückten Frust, bis er einen Hirntumor bekommt, an dessen Folgen er stirbt. Und Vera wird für schuldig erklärt.
Die Personen in Katrin Doms Roman handeln nicht in vollem Bewußtsein. Ihre Sprachlosigkeit ist gesellschaftliche Konvention, erziehungsimmanent, läßt sich über Generationen zurückverfolgen, verstehen, aber nicht lösen. Vera hat sich auf die Suche nach ihrer persönlichen Vergangenheit begeben und muß festellen, daß diese mit einer deutschen Geschichte untrennbar verbunden ist. Dazu die Autorin:
"Mauerbau als Eingriff in das persönliche Leben und darüber nichts erzählt wurde, daß der Vera dann eben ein Stückchen Geschichte aufgebürdet wurde, mit dem sie nicht lernt, umzugehen, weil es sprachlich nicht vermittelt wird, weil es nicht erzählt wird."
Nicht zufällig landet Vera während eines Spazierganges im Geschichtsmuseum. Doch die Aufarbeitung der Vergangenheit geschieht hier überwiegend durch die Abarbeitung von Zahlen. Aus Mangel an sprachlicher Vermittlung gelingt es Katrin Doms Romanfigur weder, ihre eigene Geschichte, noch die politischen Ereignisse zu bewältigen. Dau Dorn:
"Der Vera fehlt praktisch das Kettenglied ihrer Eltern, um etwas zu kapieren. Weil die einfach nichts erzählen. Was wir am ehesten kennen von der Holocaust-Aufarbeitung, Nazi-Aufarbeitung, das eben Täter und Betroffene geschwiegen haben und da ein Loch entstanden ist, das dann psychisch bei der Folgegen'eration die seltsamsten Blüten treibt, das kann man dann eben ein bißchen später bei der Generation, die die Kinder waren im Krieg, die ganz klein waren und nichts mitgekriegt haben, bei denen hat das immer noch unheimlich viele Schäden hinterlassen, das glaube ich, weil ich das einfach verheerend finde, wie sprachlos sie einfach noch sein können. Und wirklich wie rigide - rechts ist rechts, links ist links, man macht das, nur eine Orientierung auf Regeln, auf man sagt, man tut, besteht und die Wichtigkeit der persönlichen Gefühle und Einstellungen völlig bei Null liegt ."
Ähnlich wie ihre Vorbilder Agota Kristof, Marlen Haushofer und Katja Lange-Müller arbeitet die Autorin Katrin Dorn mit Sprachreduktion: Dort, wo die Probleme sich häufen, wo der Schmerz immens wird, entfernen sich die Figuren von ihrem Körper, als könnten sie aus ihm emigrieren. Sie nehmen sich nur noch im außen wahr. Dazu Dorn:
"Was mich an denen fasziniert, ist die Fähigkeit Sprache auszusparen, weil sie so über die Stimmungen versuchen, eine literarische Welt herzustellen, so daß Sprache nur dazu dient, bestimmte Räume zu charakterisieren und in diesen Räumen den Leser aufhalten lassen und das mit einer ungeheuren Sprachreduktion schaffen."
Das, was verschwiegen wird, redet in Gedanken dafür unablässig wie von selbst, im Kopf wird es lauter und lauter. Vera stellt fest, daß sie ihr Leben lang nichts anderes getan hat, als Schreie auszuhalten. Ebenso wie ihr jähzorniger Vater zerschlägt sie nachts Mobiliar, Glas und Porzellan und kann sich am nächsten Tag an nichts mehr erinnern. Dazu Dorn:
"Eigentlich wollte ich es nur Schweigen nennen, weil ich dachte, die Lüge ist auch nur eine Form des Schweigens und was ich interessant, fand wie eine Art Sozialforschungsprojekt für mich, zu gucken, weiche Arten von Schweigen gibt es."
Vera stilisiert ihren Vater zum Helden, zu einem politischen Gefangenen der DDR, um nicht erzählen zu müssen, daß er sein Leben lang geschwiegen und sich nicht um sie gekümmert hat. Doch um so mehr sie sich hinter Lügen versteckt und Klischees zu bedienen versucht, umso unausweichlicher erscheint ihr ehemaliges Leben in der DDR vor ihr. Eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Vater oder mit politischer Macht hat Vera nie geführt. Und jetzt ist es zu spät. So setzt sich das Schweigen, das sich in seinen unterschiedlichsten Formen durch den Roman zieht, fort und läßt sich niemals vollständig aufklären. Irgendetwas wird immer auch nicht gesagt und etwas anderes hätte früher gesagt werden müssen.
Bereits im Zug kehrt Vera an den Ort ihrer Erinnerungen zurück, dorthin, wo die Fühl- und Sprachlosigkeit entstand. Sie erinnert sich daran, mit ihrem Vater alleine gewesen zu sein. Er hatte sich eingeschlossen und tagelang kein Wort gesprochen. Sie hatte sich schlecht gefühlt, überflüssig, unfähig, nicht liebenswert. "Ihre Mutter hatte ihr beigebracht, wie man Strümpfe stopft, wie man mit der halbautomatischen Waschmaschine umgeht, aber nicht, wie man sich am Sonntagvormittag mit ihrem Ehemann unterhält". Gerade an dem Tag, an dem Vera beschließt, ein fröhliches Kind zu sein, tötet sie den Hund des Vaters, den süßen Terrier, den er so liebt. Sie lügt ihren Vater an; das Tier sei aus dem Fenster gesprungen. Auch in der Klasse verbreitet sie die Geschichte vom Selbstmord des Hundes, so lange, bis sie selber daran glaubt. Sie lernt, daß Lügen besseren Anklang finden als die traurige Wahrheit und von nun an erfindet sie Geschichten, mit denen sie das Schweigen ihres Vaters auffüllt und ihm Leben einhaucht. Die Lügen werden zum Ersatz für das, was sie nicht weiß, worüber niemand spricht.
Die Erinnerungen rufen in Vera erneut Angstzustände wach und sie wünscht sich, der Vater wäre bereits tot, um eine Konfrontation mit ihm zu vermeiden. Doch von ihren eigenen Gedanken erschrocken, beschließt sie, sich mit dieser Reise auf die Suche nach ihrer emotionalen Wahrheit zu begeben und sich mit ihrem Vater auszusprechen. Vera scheitert. Noch am Sterbebett verbietet der Vater ihr mit seinen letzten Worten den Mund. Dazu Katrin Dorn:
"Er ist ja bis zum letzten Moment nicht fähig, über die Dinge zu reden, die in ihm am absolut stärksten präsent sind und vorgehen. Dieses 'halt die Klappe' macht nicht nur sie einsam, es macht auch ihn selbst unheimlich einsam.
Erst nachdem der Vater tot ist, erfährt Vera, daß er in den Westen ausreisen wollte, doch zwei Monate vor dem Mauerbau kommt sie zur Weit und an einen Umzug ist nicht zu denken. Er wird Opfer der Ereignisse der aktuellen Tagespolitik. Die Willkür der Macht durchkreuzt seine privaten Pläne: Die Mauer wird gebaut und er dahinter eingesperrt, in sein eigenes Unglück. Er fällt in eine sprachliche Ohnmacht .Er lebt im unterdrückten Frust, bis er einen Hirntumor bekommt, an dessen Folgen er stirbt. Und Vera wird für schuldig erklärt.
Die Personen in Katrin Doms Roman handeln nicht in vollem Bewußtsein. Ihre Sprachlosigkeit ist gesellschaftliche Konvention, erziehungsimmanent, läßt sich über Generationen zurückverfolgen, verstehen, aber nicht lösen. Vera hat sich auf die Suche nach ihrer persönlichen Vergangenheit begeben und muß festellen, daß diese mit einer deutschen Geschichte untrennbar verbunden ist. Dazu die Autorin:
"Mauerbau als Eingriff in das persönliche Leben und darüber nichts erzählt wurde, daß der Vera dann eben ein Stückchen Geschichte aufgebürdet wurde, mit dem sie nicht lernt, umzugehen, weil es sprachlich nicht vermittelt wird, weil es nicht erzählt wird."
Nicht zufällig landet Vera während eines Spazierganges im Geschichtsmuseum. Doch die Aufarbeitung der Vergangenheit geschieht hier überwiegend durch die Abarbeitung von Zahlen. Aus Mangel an sprachlicher Vermittlung gelingt es Katrin Doms Romanfigur weder, ihre eigene Geschichte, noch die politischen Ereignisse zu bewältigen. Dau Dorn:
"Der Vera fehlt praktisch das Kettenglied ihrer Eltern, um etwas zu kapieren. Weil die einfach nichts erzählen. Was wir am ehesten kennen von der Holocaust-Aufarbeitung, Nazi-Aufarbeitung, das eben Täter und Betroffene geschwiegen haben und da ein Loch entstanden ist, das dann psychisch bei der Folgegen'eration die seltsamsten Blüten treibt, das kann man dann eben ein bißchen später bei der Generation, die die Kinder waren im Krieg, die ganz klein waren und nichts mitgekriegt haben, bei denen hat das immer noch unheimlich viele Schäden hinterlassen, das glaube ich, weil ich das einfach verheerend finde, wie sprachlos sie einfach noch sein können. Und wirklich wie rigide - rechts ist rechts, links ist links, man macht das, nur eine Orientierung auf Regeln, auf man sagt, man tut, besteht und die Wichtigkeit der persönlichen Gefühle und Einstellungen völlig bei Null liegt ."
Ähnlich wie ihre Vorbilder Agota Kristof, Marlen Haushofer und Katja Lange-Müller arbeitet die Autorin Katrin Dorn mit Sprachreduktion: Dort, wo die Probleme sich häufen, wo der Schmerz immens wird, entfernen sich die Figuren von ihrem Körper, als könnten sie aus ihm emigrieren. Sie nehmen sich nur noch im außen wahr. Dazu Dorn:
"Was mich an denen fasziniert, ist die Fähigkeit Sprache auszusparen, weil sie so über die Stimmungen versuchen, eine literarische Welt herzustellen, so daß Sprache nur dazu dient, bestimmte Räume zu charakterisieren und in diesen Räumen den Leser aufhalten lassen und das mit einer ungeheuren Sprachreduktion schaffen."
Das, was verschwiegen wird, redet in Gedanken dafür unablässig wie von selbst, im Kopf wird es lauter und lauter. Vera stellt fest, daß sie ihr Leben lang nichts anderes getan hat, als Schreie auszuhalten. Ebenso wie ihr jähzorniger Vater zerschlägt sie nachts Mobiliar, Glas und Porzellan und kann sich am nächsten Tag an nichts mehr erinnern. Dazu Dorn:
"Eigentlich wollte ich es nur Schweigen nennen, weil ich dachte, die Lüge ist auch nur eine Form des Schweigens und was ich interessant, fand wie eine Art Sozialforschungsprojekt für mich, zu gucken, weiche Arten von Schweigen gibt es."
Vera stilisiert ihren Vater zum Helden, zu einem politischen Gefangenen der DDR, um nicht erzählen zu müssen, daß er sein Leben lang geschwiegen und sich nicht um sie gekümmert hat. Doch um so mehr sie sich hinter Lügen versteckt und Klischees zu bedienen versucht, umso unausweichlicher erscheint ihr ehemaliges Leben in der DDR vor ihr. Eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Vater oder mit politischer Macht hat Vera nie geführt. Und jetzt ist es zu spät. So setzt sich das Schweigen, das sich in seinen unterschiedlichsten Formen durch den Roman zieht, fort und läßt sich niemals vollständig aufklären. Irgendetwas wird immer auch nicht gesagt und etwas anderes hätte früher gesagt werden müssen.