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"Mann des Jahrzehnts"

Er ist Friedensnobelpreisträger, er wurde vom "Time-Magazine" zum Mann des Jahrzehnts gewählt, er hatte großen Anteil an der deutschen Wiedervereinigung: die Rede ist von Michail Gorbatschow. Von ihm stammt der Satz: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben." Kaum eine Politiker-Aussage hat sich so eingeprägt wie diese. Michail Gorbatschow steht für ‚Glasnost’ und ‚Perestroika’ in der Sowjetunion, für den Beginn gesellschaftlicher Offenheit und wirtschaftlicher Umgestaltung. Heute vor 20 Jahren, am 11. März 1985 wurde Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU und damit zum mächtigsten Mann im Kreml ernannt. Wolf-Sören Treusch erinnert an das Ereignis.

Von Wolf-Sören Treusch | 11.03.2005
    Am 11. März 1985 um 12 Uhr mittags meldet Radio Moskau, KPdSU-Generalsekretär Tschernenko sei am Vortag gestorben. Die politischen Berichterstatter im Westen spekulieren, wer sein Nachfolger wird. RIAS-Korrespondentin Elfi Siegl:

    Es gibt die These, dass der Nachfolger, der genannt wird, Michail Gorbatschow schon festgelegt wurde, als man Tschernenko wählte. Weil man damals schon sagte, Tschernenko ist nur ein Übergangskandidat und hat vielleicht zwei, drei Jahre maximal, an der Macht zu bleiben, aber das muss auch nicht so sein. Die nächsten Tage werden recht spannend, und man muss einfach zunächst mal wieder abwarten.

    Normalerweise dauert es lange, bis die sowjetische Parteispitze einen Nachfolger bestimmt, diesmal geht es schnell: vier Stunden nach der Nachricht vonTschernenkos Tod meldet die sowjetische Nachrichtenagentur TASS, Michail Sergejewitsch Gorbatschow, 54, sei zum neuen Generalsekretär der KPdSU gewählt worden. Das Abstimmungsergebnis, das der Öffentlichkeit mitgeteilt wird, lautet "einmütig" und nicht "einstimmig" wie sonst üblich.

    Man ist hier doch sehr stolz, dass endlich ein junger Mann an der Spitze ist, man hat große Erwartungen an diesen Mann einerseits, andererseits weiß man natürlich, dass auch ein Mann wie Gorbatschow eingebunden ist in die kollektive Führung, dass er lange Parteimitglied ist und dass er dem Denken, vielleicht auch dem konservativen Denken verhaftet ist, nur man traut ihm zu, dass er sich entwickelt.

    Die Zeit der Wirren ist vorbei, die Gerontokratie zu Ende. Der Generationswechsel hat stattgefunden, mit Gorbatschow kann die Sowjet-Union gemäß der beklemmenden Lebenserwartung seiner Vorgänger das nächste Jahrtausend erreichen.

    Schreibt der SPIEGEL in seiner ersten Ausgabe nach der Ernennung Gorbatschows zum neuen Parteichef. Seit 1980 waren drei Generalsekretäre sowie weitere namhafte Mitglieder des Politbüros gestorben.

    Diese Kette von Todesfällen hatte auch eine gewisse Symbolik. Das System als solches lag im Sterben, es war überaltert und besaß keine Lebenskraft mehr.

    Schreibt Michail Gorbatschow in seinem 1995 erschienen Buch "Erinnerungen".

    Heute erklären die Kommunistische Partei, ihr Zentralkomitee und das Politbüro des ZK vor dem sowjetischen Volk nachdrücklich ihre unerschütterliche Entschlossenheit, dem großen Werk des Sozialismus und des Kommunismus, der Sache des Friedens, des sozialen Fortschritts und des Glücks der Werktätigen treu zu dienen. Wir beugen unser Haupt vor dir, teurer Kamerad und Kampfgefährte und versprechen, unbeirrbar dem Kurs unser Leninschen Partei zu folgen: ihrer Sache dienen heißt der Sache des Volkes dienen. Wir nehmen Abschied von Dir, teurer Konstantin Ustinowitsch.

    Bei der Trauerfeier für Tschernenko am 13. März 1985 hält sich Gorbatschow noch zurück, er weiß, er hat seine Karriere dem Parteiapparat zu verdanken. In der Folgezeit aber kritisiert der neue Kreml-Chef die Missstände in der Innen- und Wirtschaftspolitik schonungslos.
    Mit einer groß angelegten Säuberungsaktion quer durch die Funktionärskader stabilisiert er seine Macht. Bis Ende 1985 lässt er drei Dutzend Minister und mehr als 50 Gebietsparteisekretäre auswechseln. Michail Gorbatschow in seinem Buch "Erinnerungen":

    Die Perestroika begann von oben, und anders konnte es unter den Bedingungen des Totalitarismus auch nicht sein. Doch lehrten die Erfahrungen der Vergangenheit: Wenn die Impulse zu Reformen von den Massen nicht aufgegriffen werden, sind sie zum Scheitern verurteilt. Es galt also, die Gesellschaft möglichst rasch aus der Lethargie, der Gleichgültigkeit herauszuführen und in den Prozess der Veränderungen einzubeziehen. Denn hier, so wusste ich, würde über den Erfolg der angestrebten "Umgestaltung" entschieden werden.

    Gorbatschows Reform- und Entspannungspolitik entzieht zum Ende der 80er Jahre auch den anderen sozialistisch strukturierten Staaten Osteuropas den Boden. In den so genannten 2+4-Verhandlungen mit den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs stimmt er 1990 der Wiedervereinigung Deutschlands zu. Im selben Jahr erhält Michail Gorbatschow für seine Leistungen beim Aufbau einer friedlicheren Weltordnung den Friedensnobelpreis.

    Innenpolitisch ist er nicht so erfolgreich. Im August 1991 tritt er nach einem Putschversuch reformfeindlicher Kräfte von allen seinen Ämtern zurück. Michail Gorbatschow kann den Zerfall des Sowjetreiches nicht mehr aufhalten.