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Mehr oder minder poetisch gequält

Beständige Übertreibung, wiederkehrende Überzeichnung von Figuren und Situationen: Calixto Bieito gibt mit seiner Inszenierung von Bernd Alois Zimmermanns Oper "Die Soldaten" in Zürich Rätsel auf.

Von Frieder Reininghaus |
    "Für die Filmaufnahmen, die für diese Inszenierung entstanden sind", so ist auf den Monitoren in den Foyers des Züricher Opernhauses zu lesen, "wurden weder Tiere gequält noch getötet". Der Hahnenkampf z. B., der das Treiben der Offiziere im Nordfrankreich des 18. Jahrhunderts illustriert, ent-stammt einem Dokumentarfilm – und die Maden, die über die Kadaver des Federviehs kriechen, wurden nicht getötet. Nein: gequält werden in der Inszenierung von Calixto Bieito erwartungsgemäß nicht Tiere, sondern Menschen – der Kaufmann Sozius und dessen ebenfalls aus dem mittelbürgerlichen Milieu stammende Verlobte Marie Weener, die doch nur ein bisschen höher hinaus will.

    Mit dem weichen Knie von Marie geht es um das, was die zeitgenössischen Stiche William Hogarths als "A Harlot’s Progress" darstellen und was von Michael Jakob Reinhold Lenz 1776 in Form einer Komödie als Anklage gegen die Manieren der Militärs gedacht war. Bernd Alois Zimmermann überwölbte die Komödie aus der Rokokozeit mit der gewaltigen Wucht seiner komplexen Musik. Er meinte es unter weitestgehender Hintansetzung der Lustspielmomente bitter ernst in der ersten Phase der heftig kontrovers diskutierten Wiederbewaffnung der BRD.

    So komplex Zimmermanns Musik mit ihren simultanen Aktionen sich türmt, so denkbar einfach entwickelt sich die Handlung der "Soldaten"-Oper: Gesungen wird vom kurzen Glück und großen Unglück der Marie Wesener. Die dänische Sopranistin Susanne Elmark ist erst wunderbar unbeschwert der bange Backfisch, singt dann das kurze Glück der schönen Geliebten hell hinaus, präsentiert schließlich Leid und Verzweiflung im großen Bogen ihrer zielsicheren Stimme.

    Rund 120 modern uniformierte Züricher Orchestermitglieder türmen sich sichtbar hinten auf der Bühne. Sie gelangen auf einer ansteigenden Arbeitsplattform zwischen hoch aufragendem Metallgestänge zum Einsatz. Durch diese optische Dauerpräsenz verschafft sich die in so vielen Idiomen beredte Musik auf besonders intensive Weise Gehör. Unterm Kommando von Oberst Albrecht wird der Kontrastreichtum ausdifferenziert. Die Zitate, vornan die des Dies irae und der Bachschen Matthäuspassion, erzielen die intendierten Wirkungen.

    Unterm Orchester kommen die Sänger aus Katakomben. Die Offiziere mit ihrer Entourage und die Bürgerskinder, an denen sie sich gütlich tun und die sie auf dem Müllhaufen der Geschichte landen lassen, bespielen (z.T. in Simultanszenen) die leere Fläche. Sie tun es weithin mit outrierten, mitunter unfreiwillig komisch anmutenden Gesten und Nebentätigkeiten – so, als wäre die Personenführung der Opernregie in Stummfilmzeiten stehen geblieben und die Hauptakteurin Marie z. B. eine kleine Angestellte der 1920er Jahre. Überdeutlich wird den Zuschauern vor Augen geführt, dass es sich bei diesem Offizierskorps um einen Saustall handelt. Klar doch: Bieito zeigt keine eleganten Verführer, sondern nur plumpe und brutale Vergewaltiger.

    Das zu fast beständiger Übertreibung, zur wiederkehrenden Überzeichnung von Figuren und Situationen inklinierende Theatermachen von Calixto Bieito gibt auch im Detail manches Rätsel auf. Warum z. B. wird beiläufig auch Maries brave Schwester Charlotte, die mit den Soldaten nicht das Geringste am Hütchen hat, vergewaltigt und mit dem Messer ins Gesicht geschnitten? Wa-rum schlägt die Gräfin de la Roche, die Marie in ihren Haushalt aufnehmen will, so ausgiebig und heftig mit ihrer Handtasche auf sie ein? Die "Übersetzung" ins derart Handfeste ignoriert nicht nur vorsätzlich die Usancen des aristokratischen Milieus im 18. Jahrhundert, sondern verkennt die verletzende Wirkung von Worten, die im Theater von Alters her ja nicht ganz unwichtig sind. Das wirft die nachgeordnete Frage auf, ob es sich bei der Bestellung von Bieito zum Regisseur eines von historischem Materialismus aufgeladenen Werks nicht doch um einen ziemlichen Irrtum handelt.