Mittwoch, 01. Mai 2024

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"Modern Works for Wind Ensemble"

Gottlob liegt daneben schon die nächste Scheibe und belehrt einen, wie schön Mathematik sein kann, wenn sie bis in ihre feinsten Verästelungen ausgehört wird. Das erste Stück auf der neuen Scheibe des Bläserensembles Sabine Meyer ist ein Oktett, das Edison Denisow 1991 für diese Formation schrieb. Denisow hatte ein Faible für das algebraische Kalkül. Sein hochentwickelter Sinn für komplexe Zahlenverhältnisse schlägt sich hier vor allem in rhythmischen Modellen nieder, aber auch in - so möchte man sagen - Tonhöhenoperationen. Sabine Meyers Bläserensemble gewinnt dieser eminent schwierigen Musik aber einen solch - pardon! - natürlichen Charme ab, dass einem gar nicht der Gedanke kommt, hier walte das Diktat der Zahl. Deutlich wird freilich zugleich, dass es sozusagen um ganz reine Musik geht, um Gedankenklänge. Aber niemals wirken die beiden Sätze abstrakt oder gar als tote Konstruktion. Bei aller Präzision belebt der kollektive Atem des Ensembles diese Musik mit einem Reichtum an Klangnuancen, der schlichtweg fasziniert. Auf dieser neuen CD findet sich außerdem ein Oktett von Niccolò Castiglioni von 1993, das ebenfalls für das Ensemble geschrieben wurde, und das mit Satztiteln wie "Marcetta", "Romanza" und "Cabaletta" die italienische Oper paraphrasiert. * Musikbeispiel: Niccolò Castiglioni - 3. Satz aus: Ottetto per strumenti a fiato Cabaletta aus dem Oktett von Castiglioni. Klanglich sehr reizvoll sind die auf lange Strecken eher statischen Variationen von Toshio Hosokawa. Dann gibt es noch ein Oktett des 35jährigen Michael Obst, das eine erfrischende Schärfe ins Spiel bringt, und ein Nonett des jungen russischen Komponisten Alexander Raskatow aus dem Jahr 1999. Das hat es in mehrfacher Hinsicht in sich. Mit seinem Titel "Paradise Lost" verweist es zurück auf John Miltons großformatiges Poem vom verlorenen Paradies. Doch dem Titel ist ein Fragezeichen zugesellt: "Paradise Lost?" Kein Zweifel: Raskatow sehnt sich zurück nach Paradiesen, und diese Sehnsucht führt ihn wieder in die Welt der tonalen Klänge, die er freilich auf eigenwillige Art neu aushört und definiert. Ein weiterer wichtiger Aspekt ergibt sich aus der Besetzung. Raskatow schreibt anstelle der Klarinetten zwei Bassetthörner vor - hoffentlich verzeiht ihm Stockhausen diese anspielungsreiche Kühnheit - und er bereichert den Klang um die tiefen Register der Bassklarinette und des Kontrafagotts. Das verbringt das Ensemble in eine neue Dimension des quasi orchestralen Klangs, und die Welt der Harmoniemusik wird endgültig verlassen. Raskatows "Paradise Lost?" ist übrigens nicht ganz frei von Erinnerungen, die sich aufdrängen wollen. Sein verlorenes Paradies umfasst die fünf Sätze "Oh, Wald", "Wo ist der Fluss", "Zum Gras", "Die Klage der Vögel" und "Das Abendlicht" und empfiehlt sich mit seinem Touch von New Age durchaus für den nächsten besinnlichen Abend des Ältestenrates der Grünen. Doch das Stück ist beileibe nicht uninteressant, auch wenn die Frage nach dem Fluss dahingehend beantwortet wird, dass es auf diesem Weg wohl doch stracks zur Moldau geht. Hier sollen als Beispiele herhalten zum einen die Klage der Vögel, die möglicherweise auch die Trauer darüber enthält, dass Strawinsky nicht mehr unter den Lebenden weilt, und "Das Abendlicht", wo Raskatow eine ungewöhnliche Farbpalette hinbreitet. Es gehört schon Mut zu dieser Art von neuer Musik, auch Mut, sie zu spielen. Und die Fähigkeit, sie frei von jeder Sentimentalität zur Diskussion zu stellen. Beides sind Tugenden, die im Bläserensemble Sabine Meyer offenbar weiterhin gepflegt werden. * Musikbeispiel: Alexander Raskatow - 3. und 4. Satz aus: "Paradise Lost?" Das war die neue Platte im Deutschlandfunk. Heute machten wir Sie aufmerksam auf eine weitere Haydn-Einspielung des Quartetts "The Lindsays", die bei ASV Koch Classics erschienen ist, sowie auf eine EMI-CD - "Modern Works for Wind Ensemble" - mit dem Bläserensemble Sabine Meyer. Zum Schluss hörten Sie zwei Sätze aus "Paradise Lost?" für Bläsernonett von Alexander Raskatow: "Die Klage der Vögel" und "Das Abendlicht". Am Mikrofon bedankt sich Norbert Ely für Ihre Aufmerksamkeit.

Norbert Ely | 24.09.2000