Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Modiano verstehen

In seinem neuen Buch "Ein Stammbaum" erinnert sich der 62-jährige Patrick Modiano an Momente und Szenen seiner Kindheit und Jugend: Jahre, die von Kälte und Einsamkeit geprägt waren

Von Matthias Kußmann | 06.09.2007
    Jetzt kennen wir die Geschichte hinter den Geschichten. Seit 40 Jahren schreibt Patrick Modiano kleine Romane, selten länger als 120 Seiten - und alle gleichen sich. Sie spielen im Paris der Besatzungszeit oder in den 50er und 60er Jahren. Im Zentrum steht meist ein junger Ich-Erzähler, melancholisch, allein, der durch Paris streunt, auf Café-Terrassen sitzt, jemanden sucht und nicht findet. Dafür begegnet er seltsamen Halbweltfiguren, die oft so verloren sind wie er selbst, auftauchen und wieder verschwinden. Und über allem hängt diese ganz besondere, schwebend-traurige Stimmung, die Modiano-Leser süchtig macht. Als Leser fragte man sich manchmal, warum der Autor immer wieder in diese Zeit zurückkehrt, und vor allem zu diesen Figuren: Dieben, Hochstaplern, Prostituierten, die nichts mit ihm selbst zu verbinden scheint. Doch nun wissen wir - er ist in diesem Umfeld aufgewachsen.

    In seinem neuen Buch "Ein Stammbaum" erzählt der 62-jährige davon, erstmals, aber nicht spektakulär, auch wenn der Stoff es hergäbe. Er tut es leise, beiläufig, poetisch, wie in seinen Romanen auch. Modiano erinnert sich, im für ihn typischen Wechsel von Präsens und Perfekt, an Momente und Szenen seiner Kindheit und Jugend - Jahre, die von Kälte und Einsamkeit geprägt waren. Über sein literarisches Verfahren notiert er:

    "Ich schreibe diese Seiten so, wie man ein Protokoll oder einen Lebenslauf verfaßt, aus dokumentarischen Gründen und wahrscheinlich auch, um einen Schlussstrich zu ziehen unter ein Leben, das nicht meines war. Es handelt sich nur um eine dünne Schicht von Fakten und Gesten. Ich habe nichts zu bekennen, nichts zu erhellen, und ich verspüre keinerlei Neigung zu Introspektion und Gewissenserforschung. Im Gegenteil, je dunkler und geheimnisvoller die Dinge blieben, desto mehr haben sie mich immer interessiert. [...] Die Ereignisse, von denen ich bis zu meinem 21. Lebensjahr berichten werde, habe ich als Rückprojektion erlebt - jenes Verfahren, das darin besteht, im Hintergrund Landschaften vorüberziehen zu lassen, während die Darsteller reglos auf der Studiobühne verharren. Ich möchte dieses Gefühl, das viele andere vor mir empfunden haben, in Worten ausdrücken: alles zog vorüber wie bei einer Rückprojektion, und ich konnte mein Leben noch nicht leben."

    Modianos Eltern lernen sich während der deutschen Besatzung in Paris kennen. Sie ist eine kleine Schauspielerin, er macht "Geschäfte": auf dem Schwarzmarkt und sonstwo, oft jenseits der Legalität. Ein Kind stört da nur - zumal in jener Halbwelt, die Modiano dann später beschreiben wird. Die Eltern schieben den Jungen in dürftige Internate ab. Immer wieder büxt er aus und kommt zurück, immer wieder stoßen sie ihn weg. Er flieht in die Literatur und einsame Stadtspaziergänge. In der bruchstückhaften Erinnerung daran leuchten wie in allen Büchern Modianos Namen von Menschen, Straßen und Plätzen auf:

    "Der Parc Monceau, wo ich die Artikel über das Ende des Algerienkrieges lese. Der Bois de Boulogne. Ich entdecke 'Reise ans Ende der Nacht'. Ich bin glücklich, wenn ich allein durch die Straßen von Paris laufe. An einem Augustsonntag, im Südosten, Boulevard Jourdan und Boulevard Kellermann, in jenem Viertel, das ich später gut kennen würde, erfahre ich aus dem Schaukasten eines Zeitungskiosks vom Selbstmord Marilyn Monroes."

    Der 17-Jährige macht Abitur, lebt bei der Mutter: eine sprachlose Wohngemeinschaft. Sie sind so arm, dass sie manchmal keine Fahrkarte für die Metro kaufen können. Patrick stiehlt teure Bücher und verhökert sie, einmal auch Anzüge aus dem Schrank eines Bekannten. 1966 wird Modiano 21 Jahre alt: endlich volljährig. Sein Vater macht einen letzten Versuch, den störrischen Sohn auf die "rechte Bahn" zu bringen: Er soll sich vorzeitig zum Militär melden, dafür gibt er ihm 300 Francs. Der Sohn nimmt das Geld, reist aber in den Süden und schreibt seinen ersten Roman: "La place de l'Étoil". So beginnen Autoren-Biografien. Zwei Jahre später erscheint sein Debüt bei Gallimard - endlich ist er in seiner Welt, der Literatur, angekommen:

    "Die Place des Peupliers an jenem Nachmittag im Juni, als ich erfuhr, dass mein erstes Buch angenommen worden war. [...] Ein Juniabend im Théâtre de l'Atelier, Place Dancourt. [...] Roger arbeitete als Regisseur im Atelier. Am Abend der Hochzeit von Roger und Chantal hatte ich mit ihnen zu Abend gegessen, in der kleinen Wohnung von jemandem, dessen Namen mir nie wieder eingefallen ist, an derselben Place Dancourt, wo das Licht der Straßenlaternen flackert. Dann waren sie mit dem Auto in einen entfernten Vorort gefahren. An diesem Abend hatte ich mich zum ersten Mal leicht gefühlt in meinem Leben. Die Drohung, die während all der Jahre auf mir lastete, die mich zwang, ständig auf der Hut zu sein, hatte sich in der Luft von Paris aufgelöst. Ich war in See gestochen, bevor der morsche Anlegesteg zusammenbrach. Es war höchste Zeit."

    Mit dem Buch "Ein Stammbaum" verstehen wir, wie Patrick Modiano zu seinen literarischen Orten, Themen und Figuren kam. Es ist aber auch ein Entwicklungsroman in nuce - er deutet an, wie aus einem ungeliebten Kind ein großer Autor wurde.


    Patrick Modiano: Ein Stammbaum
    Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
    126 Seiten
    12,90 Euro