Archiv


'Mondo nuovo'

Mailand gehört heute zu den verkehrsreichsten Städten Europas. Fast täglich versinkt sie im Verkehrschaos.

Ein Beitrag von Thomas Migge |
    Was heute als Nachteil städtischen Lebens, als Grund für die permanent schlechte Atemluft, als Grund für die Flucht aufs Land bezeichnet wird, das wurde Anfang des 20. Jahrhunderts als Segen bezeichnet. Ein Segen, der aus Mailand die damals fortschrittlichste Stadt Italiens machte. Fortschritt verstanden als Voranschreiten in alle Richtungen und in allen Bereichen: in Technik und Wissenschaft, Wirtschaft und Urbanistik, Kultur und Politik. Keine andere Stadt Italiens verkörperte wie Mailand das neue Jahrhundert der Technik und ihrer Verheißungen. Dass die Kunstrichtung des Futurismus in Mailand ihr italienisches Zentrum hatte versteht sich fast von selbst. Dass hier die politisch dynamische Bewegung eines in den Anfangsjahren noch sozialistisch gefärbten Faschismus schnell Fuß fassen konnte war die Folge eines blinden Glaubens an eine auch politisch bessere Zukunft. Die Jahrzehnte, die aus Mailand "die" modernste Stadt Italiens machten, sind das Thema einer Kulturschau, die die These wiederholt, dass es die Futuristen waren, die Mailand in die neue Zeit katapultierten. Dazu der Historiker Marco Crivelli:

    Es wird immer vergessen, dass gerade in Mailand der Impuls, der aus der Stadt Italiens in jeder Hinsicht dynamischste Metropole machte aus der Wirtschaft und aus einer Universität kam. Diese Umstände wurden erst in den letzten Jahren wissenschaftlich erforscht.

    Im Andenken an seinen frühzeitig verstorbenen Sohn stiftete Ferdinando Bocconi 1902 eine bis dato in Italien einmalige Bildungseinrichtung aus der die wohl angesehenste Wirtschaftsuniversität des ganzen Landes hervorgegangen ist - "la Bocconi". Ein Eliteinstitut, das für viele Politiker und Wirtschaftskapitäne zum Sprungbrett ihrer Karriere wurde. Bocconi begann sein Leben als Straßenhändler und beendete es als Eigentümer großer Kaufhäuser. Er war ein Mann, der Neues wagte und der einige der bedeutendsten Intellektuellen Italiens für sich arbeiten ließ. Gabriele D'Annunzio zum Beispiel. Er arbeitete für Bocconi als, man würde heute sagen, Marketingberater. Bocconis Universität, die in diesem Jahr 100 Jahre alt wird, wurde zum Zentrum des neuen und modernen Mailand. Eine Stadt im radikalen Auf- und Umbruch. Wohl keine andere Kommune Italiens veränderte damals, in nur wenigen Jahren, so sehr ihr Gesicht. Marco Crivelli:

    Die Ausstellung verdeutlicht diesen totalen Wandel. Mailand wurde zur Stadt der Industrien. Gegen den Protest vieler Bürger und Kunstschützer wurden ganzen Straßenzüge abgerissen, darunter viele historische Bauten. Es entstanden Neubauten nach dem Geschmack der Zeit. In 25 Jahren zogen eine halbe Millionen Menschen nach Mailand. Vieles Alte verschwand und machte Fabriken Platz. Die Ausstellung zeigt anhand von Zeitdokumenten, wie sich die Stadt veränderte.

    Sie wurde umgekrempelt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie wurde revolutioniert. Trunken der Versprechungen des modernen und als besser verstandenen Lebens wurden das Auto und die Elektrizität, die Maschine und die Fabrik, das Dynamische schlechthin als neue Religion propagiert. Was in nordeuropäischen Großstädten schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Industrialisierung begann wurde in Mailand in knapp 20 Jahren nachgeholt. Auch dank der an der Bocconi ausgebildete Fachleute. Die Kulturschau trägt den bezeichnenden Titel "Die neue Welt - Mailand 1890-1915". In den Sälen des Palazzo Reale besichtigt der Besucher diese Zeit anhand von Fotografien und Gemälden, Zeichnungen und Plakaten, Tondokumenten und Zeitungen, von Werbung und Filmen. Das künstlerische Schaffen spiegelt in Bildern wie "Nach San Siro" von Aroldo Bonzagni aus dem Jahr 1910 diesen Aufbruch wieder. Die dargestellten Figuren werden fließend und auf diese Weise, so Marco Crivelli, Teil der "movimento", der Bewegung, die in jener Zeit zum Synonym für Mailand wurde:

    All das, die Bewegung der Maschinen und Autos, der Trams und Busse und die Verherrlichung der Bewegung machten aus Mailand eine in Italien einmalige Stadt. Ganz anders als Rom, Florenz oder Neapel. Dieser Charakter des 'immer das Neue aufnehmen', den gibt es auch heute noch. Er sorgt dafür, dass diese Stadt auch heute noch Italiens Avanguarde repräsentiert.

    Link: mehr ...

    354.html