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"Monologe, die mindestens Hamlet-Qualität haben"

Dominik Graf zählt zu den renommiertesten deutschen Film- und Fernsehregisseuren. Der 59-Jährige wurde für seine radikale Regieführung mit Preisen überhäuft, zuletzt bejubelte die Kritik seine Russenmafia-Serie "Im Angesicht des Verbechens". Doch wer bei dem Krimi-Meisterregisseur einen Hardboiled-Krimi als Lieblingsklassiker erwartet hätte, liegt falsch.

Aufgezeichnet von Hartwig Tegeler | 07.08.2012
    Das Grauen. Das Grauen.

    "Mein Name ist Dominik Graf. Ich bin Filmregisseur. Und mein Klassiker ist 'Das Herz der Finsternis' von Joseph Conrad."

    Ein leichter Dunst lag über den Ufern, die sich flach ins Meer verloren. Marlowe saß mit ge-kreuzten Beinen achtern und lehnte sich an den Besanmast. Und auch dies, sagte Marlowe unvermittelt, ist einer der dunklen Plätze der Erde gewesen.

    "Das ist eine Reise durch ein vollkommen unbekanntes Gebiet. Damals noch Kolonial-reich, belgisches Kolonialreich, aber von einem Engländer mit einem Boot be-fahren, der einen anderen finden soll, einen anderen Weißen, der sich irgend-wo an einer Flussbiegung aufhält. Holzhändler sind die alle, also große, große Profite werden da unten gemacht im Kongo."

    Und draußen war es so scheußlich, scheußlich finster.

    "Und einer von denen, von diesen Holzhändlern ist verrückt geworden und hat ein kleines irgendwie totalitäres Wahnsinnsreich gegründet."

    Der Pesthauch aberwitziger Raubgier schien das wie Assgeruch zu durchdringen. Bei Gott, ich hatte nie etwas so Unwirkliches gesehen in meinem Leben. Und draußen war die schweigende Wildnis, die dieses gerodete Fleckchen Erde umgab wie etwas Großes und Unbesiegbares. Wie das Böse oder die Wahrheit selbst.

    "Was der Hauptfigur, Marlowe heisst der, ich glaube, dass Raymond Chandler seinen De-tektiv später auch nicht umsonst Marlowe genannt hat, dass dieser Marlowe dann am Ende auf die Albtraumfigur Kurtz trifft ..."

    Der braune Strom floss geschwind aus dem Herzen der Finsternis und trug uns doppelt so schnell, wie wir hinauf gefahren, meerwärts davon.

    "Er trifft auf ihn, und er ist krank, er entkommt ihm quasi in gewissem Sinn, aber stattet ihn mit einigen Monologen, die mindestens Hamlet-Qualität haben, aus. Und der wichtigste Satz ist dieses ständig wiederholte 'das Grauen'"."

    Zweimal schrie er einen Schrei, der nicht mehr war als ein Hauch: "Das Grauen! Das Grauen!"

    ""'Das Grauen' murmelt er vor sich hin. Er selber fast zum Kannibalen geworden, dieser Kurtz ..."

    Flüsternd schrie er einem Bild, einer Vision zu.

    "Ein unglaublich brutaler Blick in die westliche Dekadenz und die Katastrophe der Kolonialreiche. Aber, ich denke, es geht auch noch tiefer. Es ist zu kurz, wenn man nur die Kolonialgeschichte darin sieht, es geht auch in die Tiefe der menschlichen Seele, es ist eine Geschichte in den Spiegel. Das fasziniert mich so. Es gibt bei jedem Menschen so ein halbes Dutzend bis zehn Bücher, von denen er sagen kann, die würde er auf die berüchtigte Insel mitnehmen, und die würde er auch immer wieder lesen. Und 'Das Herz der Finsternis' ist für mich jedenfalls, und ich kenne es schon 30 Jahre, die Nummer 1. "

    Ich hob den Kopf. Und die ruhige Wasserstraße, die bis an die äußersten Grenzen der Erde führt, strömte düster unter einem bewölkten Himmel dahin. Schien hinein zu führen ins Herz einer unermesslichen Finsternis.