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Münchner Kammerspiele
Auftakt des neuen Intendanten

Bei den Münchner Kammerspielen ist mit Matthias Lilienthal als Intendant eine neue Ära angebrochen: Den Auftakt der neuen Spielzeit bilden zwei unterschiedliche Stücke: "Ode to Joy", eine Subjektive auf das Münchener Olympia-Attentat von 1972, und "Der Kaufmann von Venedig", allerbestes Diskurs-Theater, findet unsere Rezensentin Karin Fischer.

Von Karin Fischer | 11.10.2015
    Matthias Lilienthal, Intendant der Münchner Kammerspiele
    Matthias Lilienthal, der neue Intendant der Münchner Kammerspiele (Deutschlandradio / Norbert Wasmund )
    Nicolas Stemanns Inszenierung ist laut, poppig, vielschichtig, also allerbestes Diskurs-Theater. Das macht aus dem Stück zuerst mal eine Kopf-Sache: Die sechs Schauspieler haben ihre Rollen, sind vor allem aber Sprecher, die immer auch Textpassagen der anderen übernehmen: Signal: wir alle sind der Jude Shylock. Der Text wird gesungen, gespielt, vielstimmig gesprochen oder einfach abgelesen; auch mal kurz auf Arabisch oder Serbisch wiederholt. Die Bühne ist nur mit hohen silbernen Planen verkleidet, zwischen Bildschirmen und Musikinstrumenten herrscht leicht chaotische Improvisations-Atmosphäre. Das ist immer so bei Nicolas Stemann, der vor allem dafür bekannt geworden ist, den wortwitz-polit-kalauernden Textflächen Elfriede Jelineks eine bühnentaugliche Form zu verpassen.
    "Der Kaufmann von Venedig" nun ist eine Klassiker-Aufladung, die es in sich hat: Einerseits wird jeder erdenkliche Diskurs der Gegenwart nicht nur integriert, kritisiert, dekonstruiert oder ironisch gebrochen; andererseits - und das ist das Erstaunliche - gehen weder Shakespeares Drama noch dessen Zumutungen dabei verloren. Und auch der Komödie verhilft Stemann klug zu ihrem Recht.
    Ein Beispiel - der Antisemitismus-Komplex im Stück. Er ist ja schon abgefedert in der Vervielfachung der Shylock-Perspektive. Später wird er von Niels Bormann in einer Jonathan Meese-Parodie mit Hakenkreuz- und Hakennase veralbert - mitsamt dem Regietheater:
    "Du hast dich verspielt, Niels!"
    "Das hat mit verspielt nix zu tun, das finde ich auch überhaupt nicht witzig, du spielst einen Juden und einen Vampir, einen Vampirjuden?! Dafür kannst du in den Knast kommen!"
    "Ich bin ein als Jude verkleideter Christ, der sich auch noch als Nazi verkleidet hat. Das ist eine Komödie, das muss man ja nicht alles so ernst nehmen, das ist eine Möglichkeit."
    Dann, um eins drauf zu setzen, reicht Bormann ein paar Ausgaben der Satire-Zeitschrift "Charlie Hebdo" herum. Und später im Stück wird aus dem berühmten Shylock-Monolog "Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht" die Klage ganz anderer Außenseiter, und so der Betroffenheitsdiskurs über Minderheiten, lustig auf die Spitze getrieben: Moslems, Roma, Frauen, Schwule, alle sind nämlich anders, am Ende sogar der heterosexuelle weiße gesunde Mann!
    Oder: Wenn der im Libanon geborene Hassan Akkouch mit langer Blondhaar-Perücke als Shylocks Tochter Jessica den eigenen Glaubens erstmal nicht verleugnen will, bekommt er dafür ein Glitzerkostüm und einen Glamour-Auftritt à la "Voice of Germany".
    Und so geht es weiter mit den ständigen aktuellen Überblendungen, von denen die meisten erhellend sind und nur ein paar als überflüssige Gimmicks gelten dürfen. Andererseits erhalten die wenigen Original-Text-Passagen bei so viel Überdrehtheit auf der Bühne ganz neues Gewicht. Das tolle Ensemble spielt die vielen Dimensionen der Inszenierung perfekt aus. Thomas Schmauser ist als Antonio ein lässiger Gönner mit depressiven Zügen im Börsentief, der sein Leben wahrhaftig der Liebe zu Bassanio verschrieben hat. Und Julia Riedel als Portia verpasst ihrer Figur derart umwerfende Mädchenhaftigkeit und emanzipiertes Bewusstsein gleichermaßen, dass man hingerissen zuhört.
    Besonders eindrücklich: die Gerichtsszene, in der alle gemeinsam das Urteil sprechen und Shylock plötzlich verstummt, während sein Text weiter auf den Bildschirmen zu lesen ist. Deutlicher war die Vernichtung einer Person durch die Logik geltenden Rechts selten zu sehen.
    Demgegenüber ist "Ode to Joy" von Rabih Mroué eine eher kleine, unabgeschlossene Recherche um das Münchener Olympia-Attentat von 1972 und andere, palästinensische Perspektiven darauf. Vor allem aber geht es um die Macht der Medien, die hier in Form von Videos auch formal die Performance bestimmen. Das Bild des Maskierten auf dem Balkon in München wurde zum Umschlagpunkt; danach waren die "Kämpfer für die palästinensische Revolution" im westlichen Narrativ Terroristen. Dass an diesem Abend mit viel experimentellem Aufwand auch ein Bett gesprengt wird, gehört zu dem nicht so schnell entschlüsselbaren Überschuss, der die Arbeiten des libanesischen Regisseurs eben zu Kunst macht. Realer Hintergrund: die Alpträume des letzten überlebenden Attentäters, vom israelischen Geheimdienst im Schlaf ermordet zu werden und die lebenslange Frage, warum das nicht geschah.
    Der Auftakt der Münchener Kammerspiele ist ebenso vielseitig wie anregend: Fern jeder Eindimensionalität, aber auch fern jeder politischen Naivität.