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Nach Betreuungsgeld-Urteil
"Wir brauchen dringend mehr Mittel"

Die Modelle zur Frühkindlichen Bildung würden in den 16 Bundesländern immer weiter auseinanderdriften, beklagt der Bildungsforscher Stefan Sell im DLF. Er fordert: Der Bund müsse sich kontinuierlich und bedarfsgerecht an den Kosten der Kitas beteiligen.

Stefan Sell im Gespräch mit Benedikt Schulz | 21.07.2015
    Kita "Uns Lütten" in Mecklenburg-Vorpommern
    Kita "Uns Lütten" in Crivitz/Mecklenburg-Vorpommern (Foto: Silke Hasselmann )
    Benedikt Schulz: Was wurde über diese 150 Euro gestritten. Das Betreuungsgeld – ein Vorzeigeprojekt der CSU, von den Koalitionspartnern im Bund damals aber nur mit Bauchschmerzen verabschiedet. Und die Kritik ist seit Einführung nicht verstummt. Vor allem die umstrittene Leistung halte genau die Kinder von einer Kita fern, für die eine frühkindliche Pädagogik besonders sinnvoll wäre, nämlich die aus bildungsfernen Schichten, und das ist durch Studien inzwischen auch belegt worden. Aber das Betreuungsgeld blieb Gesetz – bis heute. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich heute Stopp gerufen, zumindest für das bundesweite Modell, denn Karlsruhe hat heute nicht über Sinn und Unsinn der umstrittenen Prämie geurteilt, sondern nur darüber, ob das Ganze verfassungskonform ist. Ist es nicht – da der Bund in diesem Fall nämlich keine Gesetzgebungskompetenz hat, die Länder sind zuständig. Das Betreuungsgeld ist also Geschichte, aber wenn ein Bundesland weiter welches zahlen möchte, dann darf es das, auch nach dem heutigen Tag. Und zumindest Bayern, gewissermaßen ja das Mutterland der sogenannten Herdprämie, hat das ja auch schon angekündigt. Stefan Sell leitet das Institut für Bildungs- und Sozialpolitik der Hochschule in Koblenz und ist Experte für frühkindliche Bildung. Ich grüße Sie!
    Stefan Sell: Guten Tag!
    Schulz: Ist es ein guter Tag für die frühkindliche Bildung in Deutschland?
    Sell: Na ja, es ist zumindest ein guter Tag für alle Gegner des Betreuungsgeldes, die schon immer auf die mehrfachen Widersprüche, die mit dieser Leistung verbunden sind, hingewiesen haben. Ob es aber auch für die frühkindliche Bildung ein guter Tag ist, da müssen wir erst mal noch, glaube ich, ein paar Fragezeichen dranmachen.
    Schulz: Und was wäre Ihre Antwort auf die Fragezeichen?
    Sell: Die Fragezeichen beziehen sich darauf, dass wir ja in den vergangenen Jahren einen massiven Ausbau der Kitaplätze für die unter Dreijährigen erlebt haben, und wir haben – ich darf daran erinnern – in den vergangenen Monaten nicht nur im Umfeld des derzeit auf Eis liegenden Kitastreiks über die teilweise hoch problematischen Situationen in den Kitas aufgrund der wirklich teilweise schlechten bis miesen Rahmenbedingungen diskutiert. Und jetzt könnte man auf die Idee kommen, es ist deswegen ein guter Tag für die frühkindliche Bildung, weil die fast eine Milliarde Euro, die im laufenden Jahr im Haushalt des Bundes für dieses Betreuungsgeld, was jetzt gestoppt worden ist vom Verfassungsgericht, eingestellt sind, dass die also jetzt dann benutzt werden können, um die Qualität in den Kitas zu verbessern. Aber das ist noch bei Weitem nicht sicher, dass das auch passieren wird.
    Sell: Keines der berücksichtigten Familienmodelle entspricht der Lebenswirklichkeit
    Schulz: Bayern will das Geld weiterhin zahlen, man muss jetzt mal gucken, wie die anderen Bundesländer das dann sehen, das Ganze, und die Situation ist ja jetzt schon in der frühkindlichen Bildung von Land zu Land völlig unterschiedlich. Werden denn die Bundesländer jetzt noch mehr auseinanderdriften, haben wir da jetzt 16 verschiedene frühkindliche Pädagogiken?
    Sell: Ja, die haben wir leider schon, das ist der Tatbestand, und das Grundproblem im Bereich der frühkindlichen Bildung und Betreuung hat schon was mit unserem heutigen Thema der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung zu tun, denn der Bund fördert ja den Ausbau der Kitas mittlerweile mit erheblichen Mitteln, allerdings im überwiegenden Sinne den Ausbau. Der zentrale Punkt sind aber die Betriebskosten, die laufenden Kosten des Kitabetriebs, hierbei vor allem das Personal, und da haben wir nicht nur zu wenig, sondern – das hat der Kitastreik ja auch gezeigt – zu Recht fordern die Erzieherinnen und Erzieher und andere Berufsgruppen eine Aufwertung. Das heißt, wir brauchen mehr Mittel, und diese Mittel müssen natürlich eigentlich auch so verteilt werden, dass dort, wo der größte Ausbau und Nachholbedarf besteht, am meisten gefördert wird. Das heißt, wir bräuchten eine systematische regelgebundene Mitfinanzierung des Bundes an den Kitakosten. Wenn wir das nicht hinbekommen, dann werden die Qualitäten tatsächlich immer stärker auseinanderlaufen, und der Vorstoß der Bundesfamilienministerin Schwesig, ein Bundesqualitätsgesetz zum Beispiel mit Mindestpersonalschlüsseln zu verabschieden, ist ja kläglich gescheitert, weil natürlich so ein Gesetz nur kommen würde, wenn der Bund sich auf Dauer und regelhaft an den Kosten beteiligen würde.
    Schulz: Wir haben viel gestritten über das Betreuungsgeld, über eben diese 150 Euro. Haben Sie das Gefühl, dass die Debatte um das Thema frühkindliche Bildung ein bisschen zu wenig sachlich und ein bisschen zu ideologisch geführt wurde in den letzten Jahren?
    Sell: Absolut. Auch jetzt die Reaktionen zeigen das doch wieder: Sowohl von der Seite der jetzt natürlich frustrierten Betreuungsgeldbefürworter wie auch der anderen, die sich da bestätigt fühlen, letztendlich ist die Debatte um die 150 Euro Betreuungsgeld doch immer ein Stellvertreterkrieg gewesen über bestimmte Familienmodelle. Und na ja, wie soll man sagen, der Witz besteht darin, dass eigentlich beide Lager Familienmodelle präferieren, die eigentlich sich in der Realität der Familien in Deutschland längst überholt haben. Die einen, die sozusagen von der Hausfrauenehe der 50er- und 60er-Jahre ausgehen und die fördern möchten, und die anderen, die sozusagen die bedingungslose Mobilisierung der Mütter für den deutschen Arbeitsmarkt wenn nicht offen, dann aber verdeckt mitlaufen lassen – beide Modelle entsprechen der tatsächlichen Realität vieler Familien nicht, die immer alles doch miteinander kombinieren müssen. Auch wenn sie ihr Kind vier, fünf Stunden in eine Kita bringen, heißt das doch noch lange nicht, dass die restlichen 20 oder 19 Stunden, die so ein Tag hat, von jemand anderem gemacht werden, sondern die Familien müssen sich dann – und tun es auch – um ihre Kinder kümmern.
    Schulz: Das Bundesverfassungsgericht hat heute das Betreuungsgeld fürs Erste gestoppt. Einschätzungen waren das dazu von Stefan Sell. Er leitet das Institut für Bildungs- und Sozialpolitik an der Hochschule Koblenz. Ganz herzlichen Dank, Herr Sell!
    Sell: Danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.