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Nachruf
Mittelalter-Historiker Jacques Le Goff im Alter von 90 Jahren gestorben

Der französische Mittelalter-Historiker Jacques Le Goff ist heute im Alter von 90 Jahren gestorben. Le Goff warf in seinen Arbeiten einen ganz neuen Blick aufs Mittelalter: Er sah es nicht als eine rückschrittliche Zwischenzeit zwischen Antike und Neuzeit, sondern durchaus als eine Epoche des Fortschritts.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 01.04.2014
    "Die Humanität liegt im Leben und der Tod ist nur, das scheint offensichtlich, ein Aspekt des Lebens. Deshalb müssen wir das Leben zur Basis erheben. Ich glaube, dass alles Wissen, dass all unsere wissenschaftlichen Disziplinen, ob es sich dabei nun um die Geistes- und Sozialwissenschaften handelt, wie ich sie ausübe, oder um die Naturwissenschaften, versuchen müssen, die Entfaltung und das gute Funktionieren des Lebens zu verstehen und zu begünstigen."
    Dieser Überzeugung hat der 1924 in Toulon geborene Jacques Le Goff sein Leben und Werk gewidmet. Nach dem Tod Georges Dubys war er unbestritten der führende Mediävist, der sich vor allem mit seinen Arbeiten "Der Mensch des Mittelalters", "Die Intellektuellen im Mittelalter", "Das Hochmittelalter", "Die Geburt des Fegefeuers", seiner monomentalen Biografie "Saint Louis" und seinen Arbeiten zur Geschichte der Stadt einen Namen gemacht hat. Leitend war die Idee einer gegenüber der herkömmlichen Geschichtswissenschaft viel umfassenderen Darstellung. Der zuletzt in Paris mittelalterliche Geschichte lehrende und mit vielen Auszeichnungen und Preisen geehrte Le Goff war einer der Initiatoren der sogenannten "Nouvelle histoire", einer neuen Geschichtswissenschaft, die nach seiner Definition zwei Gefahren zu meiden versucht hat: einerseits zu stark zu systematisieren, andererseits rein empirisch vorzugehen.
    Bei ihrem Versuch, die Geschichte des ganzen Menschen in seiner Vitalität und in seinen dynamischen Lebensbezügen zu schreiben, wandten sich die neuen Historiker schon der ersten Generation um Lucien Febvre, Marc Bloch und Fernand Braudel von Anfang an gegen den Positivismus des 19. Jahrhunderts und die Erstarrung im Tatsachenglauben. Wenn Jacques Le Goff den Historiker nicht auf den Notar und Dokumentaristen reduziert wissen möchte, dann hat er das Schöpferische jeder Wissenschaft, die ihr eigene Poesie und Erzählform im Blick. Und am Ende soll auch nicht eine vereinzelte Betrachtung der Phänomene isoliert werden. Es geht vielmehr um das Projekt der totalen Geschichte und damit um die Erneuerung des gesamten Arsenals der Geschichtswissenschaft, nicht bloß eines ihrer Spezialgebiete. Geschichtswissenschaft, so sein Credo, müsse dazu dienen, aus der Geschichte für die Zukunft zu lernen. Der Historiker sei ein Gedächtnisverwalter, der versuche, die Vergangenheit in die Zukunft zu verlängern. Er schaut wie durch Fernrohre in die Zeiten, aber er dürfe sich weder nur als Notar des Gewesenen, noch als Prophet missverstehen. Geschichte als Wissenschaft und Geschichte als Erzählung, das war die neu entdeckte Doppelgestalt dieser Disziplin.
    Le Goff hat wie kein anderer Historiker unermüdlich versucht, die Geschichte des Mittelalters aus dem Abseits einer Fachdisziplin zu befreien, sie in die Theorie der Moderne und in unser aktuelles Verständnis von Europa einzubeziehen. In einer solcher Art bereicherten Geschichtswissenschaft werden die politische Geschichte, die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, in ihren Bezügen zur Mentalitätsgeschichte, zur Geschichte menschlicher Vorstellungen und imaginärer Strukturen erfahrbar. Bei aller Betonung des Moments des Narrativen und der Konstruktion bedeutet dies jedoch keineswegs die völlige Aufgabe des Ideals der Objektivität, lediglich dessen Neubestimmung und die namische Einbettung in die Erzählung der sozialen Praxis.
    "Die Vergangenheit ist dafür da, um uns eine gute Grundlage für die Gegenwart und die Zukunft zu geben. Eine gute Grundlage, was bedeutet das? - Das bedeutet - oh, ich spreche auf banale und rohe Weise -, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen und den Fortschritt, der sich immerhin auch eingestellt hat, besser zu verwirklichen. Und vor allem in der europäischen Geschichte müssen wir uns einiger wichtiger Aspekte der europäischen Geschichte wegen schämen und sie verurteilen. Wir haben auch Gründe dafür, uns nicht zu schämen, uns Europäer zu nennen und uns da zu entscheiden, weiterhin und auf bessere Weise Europäer zu sein: besser für Europa, aber auch besser für den Rest der Welt."