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Das Schicksal ist ein mieser Verräter

Von einem Schicksalsschlag, der für Cartoonist John Callahan zur Wende wird, erzählt der Film "Don't worry, weglaufen geht nicht". Vorsehung ist Thema in "Das Geheimnis von Neapel". Kein leichtes Los ist es, zur Familie eines SED-Funktionärs zu gehören, wie "Familie Brasch - Eine deutsche Geschichte" zeigt.

Von Jörg Albrecht | 15.08.2018
    Marion Brasch lehnt an einer Wand mit einem Boxhandschuh-Graffiti in einer Szene aus dem Film "Familie Brasch"
    Marion Brasch in einer Szene aus dem Film "Familie Brasch" - sie ist das einzige der vier Kinder von Gerda und Horst Brasch, das noch lebt (Salzgeber & Co. Medien GmbH)
    "Mein Gott, es fällt mir immer wieder schwer so etwas zu sagen. Sie werden vermutlich für immer gelähmt sein. Aber draußen ist ein schöner Sonnenaufgang."
    Die Worte des Arztes müssen zynisch klingen in den Ohren eines jungen Mannes, dem gerade - wortwörtlich - der Boden unter den Füßen weggezogen wird. John Callahan ist 21, als er erfährt, dass er nach einem Autounfall im Suff den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen wird. Ab sofort ist für Callahan alles anders. Bis auf eine Sache: Er wird weiter trinken, denn - trotz seines jungen Alters - hat er ein Alkoholproblem.
    "Am letzten Tag, an dem ich gehen konnte, wachte ich ohne Kater auf. Ich war noch besoffen von der Sauferei in der Nacht davor."
    Das wird Callahan später erzählen vor einer Gruppe Anonymer Alkoholiker. Ein Satz, der auch in seinem Buch Don´t worry, weglaufen geht nicht steht. In der Autobiographie, für Regisseur Gus Van Sant Vorlage für seinen gleichnamigen Film, beschreibt Callahan seine Rückkehr ins Leben. Die verdankt er - nach eigener Aussage - zu einem großen Teil der Selbsthilfeorganisation.
    "Ich brauche einen Sponsor."
    "Es ist nur so, ich habe im Moment viele Ferkelchen."
    "Was für Ferkelchen? Ich brauche einen Sponsor."
    "Meine Schützlinge sind die Ferkelchen."
    "Echt witzig."
    "Du willst meine Hilfe, um trocken zu werden?"
    Fast dokumentarische Bilder
    Nur wie gibt man einem Leben einen Sinn, das auch vor dem Unfall so gut wie keinen gemacht hat? Für Callahan heißt die Antwort: Zeichnen. Mit einfachen Strichen malt er Karikaturen, die böse und anstößig sind und über die nicht jeder lachen kann. Aber doch so viele, dass sie veröffentlicht werden.
    "Don´t worry, weglaufen geht nicht" ist keine konventionelle, chronologisch erzählte Autobiographie. Gus Van Sant dekonstruiert Callahans Lebens- und Leidensgeschichte und setzt sie neu zusammen in zeitweise fast dokumentarischen Bildern. Dank der großartigen Schauspieler – neben Joaquin Phoenix glänzt vor allem Jonah Hill als Callahans Sponsor - verzeiht man dem Film selbst die hin und wieder etwas aufgesetzte Larmoyanz.
    "Don't worry, weglaufen geht nicht": empfehlenswert
    Elegant kreist die Kamera in der Eröffnungssequenz von "Das Geheimnis von Neapel" durch ein Treppenhaus. Dazu ertönt Musik, die in manchen Takten die perfekte Untermalung für einen Thriller wäre. Dann ein Schuss. Ein Mann stürzt zu Boden. Hinter ihm eine Frau, die eine Pistole auf ihn richtet und mehrfach abdrückt. Ein kleines Mädchen beobachtet alles.
    So könnte auch ein Brian-de-Palma-Thriller aus den 1970er- oder 80er-Jahren beginnen. Ein solcher Film schwebte offensichtlich auch Regisseur Ferzan Özpetek vor bei "Das Geheimnis von Neapel". Der Anfang bleibt erst einmal für sich stehen, bevor in der nächsten Szene die Hauptfigur auftaucht. Es ist die Pathologin Adriana, die auf einer Party Andrea begegnet.
    "Haben Sie morgen schon was vor?"
    "Noch nichts momentan."
    "Tja, ich habe einen Termin um kurz nach zehn. Das heißt ich werde überhaupt nicht zum Schlafen kommen."
    "Wieso?"
    "Sie und ich werden die Nacht miteinander verbringen."
    Neapel als Ort der Mysterien
    Diese gemeinsame Nacht zeigt der Film in aller Ausführlichkeit und es beschleicht einen früh das Gefühl, es hier mit einer Geschichte zu tun zu haben, die unter dem Deckmantel des Spannungsaufbaus viel zu lange für alles braucht. Am nächsten Tag ist Andrea tot, liegt mit ausgestochenen Augen bei Adriana in der Gerichtsmedizin. Doch schon bald wird sie einen Mann in den Straßen Neapels entdecken, der dem Toten wie aus dem Gesicht geschnitten ist.
    "Was ist? Erkennst du mich denn nicht?"
    "Ich bin nicht Andrea."
    "Was für ein Spiel soll denn das jetzt werden?"
    "Es ist kein Spiel. Ich bin nicht Andrea. Tut mir leid."
    Ferzan Özpetek versucht aus Neapel einen Ort der Mysterien zu machen und versteht es dennoch nicht, seiner Geschichte auch nur den kleinsten enigmatischen Reiz einzuhauchen. Dafür gefällt er sich als penetranter Kunstbeflissener mit Ausflügen in die Kulturgeschichte der Stadt. Wie der Film elf Nominierungen für den David di Donatello, den italienischen Filmpreis ergattern konnte – das allerdings ist ein Mysterium.
    "Das Geheimnis von Neapel": enttäuschend
    "Kannst du dich erinnern, wie du Thomas kennengelernt hast?"
    "Thomas lernte ich '61 kennen. ... Wir haben uns ziemlich schnell angefreundet. Es war eine besonders enge Freundschaft."
    Christoph Hein über den Schriftstellerkollegen und Regisseur Thomas Brasch, der 2001 im Alter von 56 Jahren gestorben ist. In Annekatrin Hendels "Familie Brasch - Eine deutsche Geschichte" steht Familienmitglied Thomas immer wieder im Mittelpunkt.
    Schon mehrere Dokumentarfilme haben sich mit dem Sohn des SED-Parteifunktionärs Horst Brasch und dessen Frau Gerda beschäftigt, so zum Beispiel das gelungene, 2011 entstandene Porträt "Brasch - Das Wünschen und das Fürchten" von Christoph Rüter. Dem kann Annekatrin Hendel nicht viel Neues hinzufügen. Sich dessen wohl bewusst, rückt die Filmemacherin etwas fadenscheinig jetzt die Eltern ins Zentrum ihrer Chronik einer deutschen Familie. Die meisten Erinnerungen und Erzählungen von Christoph Hein über Bettina Wegener bis Katharina Thalbach kreisen trotzdem auch hier um Thomas Brasch.
    Neue Einblicke in einen Familienstammbaum
    "Es gibt von jeder Familiengeschichte eine Erzählung jedes Mitglieds dieser Familie. Und jedes Familienmitglied erzählt seine eigene Version. Und ich erzähle meine Version. Ich bin die Letzte, die sie erzählen kann, aber ich will meine sehr subjektive Geschichte erzählen."
    Marion Brasch, das einzige der vier Kinder von Gerda und Horst Brasch, das noch lebt, benennt die große Chance, die in einem Dokumentarfilm wie "Familie Brasch" liegt. Durch verschiedenen Perspektiven und Interpretationen ergeben sich neue Einblicke in einen Familienstammbaum, der auf faszinierende Weise die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts spiegelt. Annekatrin Hendel wird 2019 nachlegen und aus Marions Braschs Buch Ab jetzt ist Ruhe: Roman meiner fabelhaften Familie einen Spielfilm machen.
    "Familie Brasch": akzeptabel