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Neue Hochburgen
Im Ruhrgebiet brauchen die Grünen jetzt Personal

Der Erfolg der Grünen bei der Europawahl bringt die Partei in NRW in Zugzwang: 20 Prozent der Stimmen in manchen Gemeinden - teilweise jedoch ohne Ortsverband. Für die Kommunalwahlen werden Kandidaten gebraucht, Quereinsteiger sind erwünscht. Das Parteibuch scheint verzichtbar, solange die Haltung stimmt.

Von Vivien Leue | 20.06.2019
Stoffbeutel mit dem Grünen-Logo hängen im vor Beginn einer Fraktionssitzung 2012 im Bundestag über den Stuhllehnen.
Bei den Grünen gibt es noch mehr als genug Plätze zu besetzen (Soeren Stache, dpa/picture-alliance)
Jubelstimmung in Neuss bei Düsseldorf. Grünen-Chefin Annalena Baerbock gratuliert dem Landesverband NRW, dem größten Landesverband der Grünen in Deutschland: "Euer Wahlergebnis hat ja maßgeblich dazu beigetragen, dass wir das beste Ergebnis aller Zeiten für uns jemals in Deutschland erreicht haben."
Etwas mehr als 23 Prozent haben die Grünen in Nordrhein-Westfalen bei der Europawahl geholt – sie liegen damit über dem Bundesschnitt. In acht der zehn größten Städte im Land wurde die Partei stärkste Kraft.
"Das ist was, das müssen wir erstmal verdauen, würde ich sagen."
Solche Erfolgszahlen sind die NRW-Grünen tatsächlich nicht gewohnt. Bei der letzten Landtagswahl vor zwei Jahren zitterten sie noch um ihren Einzug ins Parlament, am Ende erhielten sie gut sechs Prozent der Stimmen. Das beste Ergebnis, das sie je bei einer Landtagswahl erzielten, waren 2010 knapp über zwölf Prozent. NRW gilt traditionell als schwacher Landesverband - grüne Erfolgsgeschichten, grüne Stars kamen bisher eher aus Hessen, Berlin oder Baden-Württemberg.
"Wenn man 20 Prozent bei einer Wahl an Stimmen bekommt, dann bedeutet das, dass wir eine ganz andere Verantwortung auch übernehmen müssen", sagte denn auch der Ko-Landesvorsitzende der Grünen*, Felix Banaszak. "Wir wollen NRW grüner machen, wir fangen an, nächstes Jahr bei den Kommunalwahlen, all unsere Augen richten sich darauf, all unsere Unterstützung habt ihr in den Kreis- und Ortsverbänden."
20 Prozent ohne Ortsverband
Diese Unterstützung dürften so manche Kreis- und Ortsverbände dringend benötigen. Denn allein personell sieht es für die Grünen in vielen Regionen in NRW eher düster aus. Beispiel Lippetal: In der Gemeinde im Nordwesten Nordrhein-Westfalens erhielten die Grünen knapp 20 Prozent der Stimmen – es gibt bislang aber noch nicht einmal einen Ortsverband. Wer könnte also überhaupt in den Rat einziehen?
"Wenn wir auch bei der Kommunalwahl deutlich zulegen, dann ist das eine deutliche Möglichkeit der Mitgestaltung. Und unser Verständnis von Politik ist aber nicht, das man seit 20 Jahren bei den Grünen gewesen sein muss, um dann bei der Kommunalwahl Politik zu machen", sagt Annalena Baerbock.
"Das heißt, die vielen Menschen, die sich vor Ort engagieren, als Trainer im Fußballverein, in der Flüchtlingshilfe, im Kirchenchor, die sind herzlich eingeladen, wenn sie NRW, wenn sie ihre Stadt ökologisch, sozial gerecht und weltoffen gestalten wollen, mal bei uns vorbei zu schauen und auch bei uns auf den Listen zu kandidieren."
Ähnliches gilt offenbar auch für Bürgermeisterposten: Quereinsteiger erwünscht. In etlichen Städten stehen die Chancen – Stand jetzt – gut, dass die Grünen als stärkste Fraktion in die Rathäuser einziehen. Auch in Städte, die bisher eher als rote Hochburg galten, wie Dortmund oder Bochum.
"Bombastisch, man kann es gar nicht anders sagen", freut sich noch zwei Wochen nach der Wahl Sonja Lohf, Mitglied im Kreisvorstand der Bochumer Grünen.
"Auch bei uns wird überlegt: Wer kommt in die nächste Kommunalwahl, wer geht auf die Liste. Direktmandate sind auf einmal ein Thema, muss man auch sagen."
Klimanotstand ausgerufen
In Bochum bilden die Grünen eine Regierung mit der SPD, die aktuell den Oberbürgermeister stellt. Zwar müsse man auf dem Teppich bleiben, sagt Sonja Lohf, aber natürlich müssen die Grünen überlegen, was sie tun, wenn sie die OB-Wahl gewinnen.
"Wir wollen nicht nur da jemanden hinsetzen, weil wir’s wollen, sondern der soll für uns stehen, der soll Inhalte haben, der soll authentisch sein, der soll sich mit Bochum identifizieren können. Das ist eine spannende Sache, aber da lassen wir uns nicht hetzen."
Womöglich werde man den besseren Kandidaten sogar bei der SPD finden - vielleicht, sagt Sonja Lohf, gehe man ja auch noch auf die SPD zu, und schaue, "was uns vielleicht der Koalitionspartner anbietet".
Um nun auch grünes Profil zu zeigen – das im Ruhrgebiet bislang wenig ausgeprägt war – haben die Grünen gut zehn Tage nach der Europawahl mit dem großen Koalitionspartner SPD in Bochum den Klimanotstand ausgerufen. Nächstes Thema: ein neues Mobilitätskonzept für die Ruhrgebietsstadt.
"Der Fuß- und Fahrradverkehr muss Vorrang haben. Wir wollen fördern, dass der ÖPNV verbessert wird, dass die Anbindungen besser werden und, ich sage mal, dass der Fußgänger oder Fahrradfahrer sich so ein bisschen die Stadt zurück erobert."
Auch in Dortmund wollen die Grünen den Klimanotstand ausrufen und neue Sozialkonzepte vorstellen, erzählt die Sprecherin der grünen Ratsfraktion der Stadt, Ingrid Reuter.
"Viele Leute haben jetzt die Erwartungen, dass die Grünen ganz toll was voran bringen können, aber die Ratsmehrheiten sind dieselben geblieben, und da müssen wir weiter wie vorher auch kämpfen."
Dennoch hofft sie auf Rückenwind für grüne Themen, denn die anderen Parteien in der Stadt hätten natürlich gemerkt, dass sich die Stimmung gedreht hat.
"Die SPD sieht glaube ich schon so ein wenig die Felle weg schwimmen und ich glaube, es wird ein harter Wahlkampf."
Personalfrage im Kernland
Dortmund ohne roten Bürgermeister – das ist aktuell tatsächlich denkbar. Aber auch in diesem Kernland der Sozialdemokratie stellt sich die Frage nach dem passenden Personal:
"Das ist ja heute auch in den Reden deutlich geworden, dass wir jetzt auch ganz verstärkt Personalpolitik machen müssen, gucken müssen, welche Frauen und Männer wir auf die Listen bringen."
Auch Ingrid Reuter findet: Parteibuch ist verzichtbar, solange die Haltung stimmt.
Der Landesverband bietet an, die Kommunalpolitiker in spe auch zu schulen, sagt NRW-Grünen-Chefin Mona Neubaur.
"Wir bereiten als Landespartei dafür entsprechende Beratungsangebote, Seminare und so was vor, weil wir der Auffassung sind, es ist gut, wenn die Leute vorher wissen, worauf sie sich einlassen."
Nämlich auf Erfüllung der Hoffnungen, die die Erfolge der Grünen selbst in NRW nun geweckt haben. Der Wahlerfolg der NRW-Grünen – er bringt die Partei jetzt in Zugzwang.
*Anmerkung der Redaktion: Wir hatten Felix Banaszak zunächst fälschlicherweise als stellvertretenden Landesvorsitzenden bezeichnet. Richtig ist: Die Grünen haben in NRW eine Doppelspitze - Felix Banaszak ist einer von zwei Landesvorsitzenden.