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Ohne Tabu

Mitte der 80er Jahre. Stefan Weidner, Sohn eines Kölner Polizisten, ist 17. Die Ferne lockt, das Fremde, völlig andere. Also kauft er sich das preisgünstige Interrail-Ticket und bricht in Richtung Nordafrika auf: nach Tunesien und Algerien. Es ist ein Trip ins Ungewisse. Denn der katholisch erzogene Weidner ist auf die Begegnung mit der arabisch-islamischen Welt nicht vorbereitet:

Von Christoph Vormweg |
    Als ich dann dort war, fiel mir natürlich auf, dass die Religion eine sehr, sehr große Rolle spielt, zum einen. Zum anderen waren die Leute sehr freundlich, gastfreundlich. Es war sehr einfach - auch als allein reisender Westler - dort durchzukommen, mit Französisch kam ich sehr gut zu Recht damals, da konnte man also problemlos mit allen Leuten reden in Nordafrika. Und es war dann klar, dass in dieser Religion und bei diesen Menschen ein besonderes Geheimnis liegen muss. Ich wollte das näher kennenlernen und hab das in einem ersten, noch sehr naiven Schritt gemacht, indem ich mir einen Koran gekauft habe, einen französisch-arabischen Koran, und versucht habe, darin etwas zu lesen. Und das ist die Eingangsszene in dem Buch, in der ich beschreibe, wie ich im Grunde bei meiner Koran-Lektüre gescheitert bin, wie befremdet ich auf einmal war von dieser Kultur, die mir doch durch die Menschen als eine sehr zugängliche entgegen trat.

    Das Befremden jedoch befeuert Stefan Weidners Neugier. Er lernt arabisch, studiert Islamwissenschaften, reist nach Beirut und Kairo, beginnt Gedichte ins Deutsche zu übersetzen und Bücher arabischer Autoren zu rezensieren. Den Slalom seiner mittlerweile 20 Jahre währenden Annäherungsarbeit beschreibt er jetzt in seinem Buch Mohammedanische Versuchungen, einer geglückten Mischung aus Essay und Erzählung, die genaue Beobachtung mit tabuloser Analyse verbindet. Gerade der persönliche Zugriff verleiht dem Text seine innere Spannung. Und: Stefan Weidner begnügt sich nicht mit Beschaulichkeit. In der Konfrontation mit der arabisch-islamischen Welt in ihrer oft schwer überschaubaren Vielfalt spürt er auch die Begrenztheiten unserer abendländischen, kritisch-aufklärerischen Wahrnehmung auf.

    Unsere Rationalität ist eine Rationalität, die sehr darauf aus ist, alles zum Funktionieren zu bringen, also in gewisser Hinsicht eine technisierte Rationalität, während eine Rationalität, die der Orient heute noch relativ präsent hat, eine wäre, die in der Lage ist, vermeintlich Irrationales wie zum Beispiel Träume, wie zum Beispiel den Glauben an die Offenbarung produktiv in das Dasein und in die Gesellschaft einzubinden.

    Nach dem 11. September 2001, dem Anschlag auf das New Yorker World Trade Center, ist die Wahrnehmung der arabisch-islamischen Welt in den westlichen Medien vom Terrorismus-Begriff dominiert worden. Gegen die Kurzschlüsse und die Klischee-Lastigkeit so vieler Debatten sind Stefan Weidners Mohammedanische Versuchungen die geeignete Medizin. Immer wieder variiert er geschickt die Perspektiven. So beschreibt er das Gespräch mit einem Syrer, der in den 50er Jahren im katholischen Köln studiert hat und sich dort einem religiösen Fundamentalismus ausgesetzt sah, den er aus seiner Heimat nicht kannte. Heute, 50 Jahre danach, scheinen sich die Dinge verkehrt zu haben. Doch auch das könnte sich wegen der Krisenanfälligkeit des Westens bald wieder ändern – zumal die selbst ernannten US-amerikanischen Welterretter im Marschgepäck längst wieder einen medienwirksam in Szene gesetzten Gott mitführen. Mehr noch: wer differenziert, darf nicht die Mitschuld des Westens an der Erstarkung der Islamisten unter den Teppich kehren. Und das gilt nicht nur für die einstige Bewaffnungspolitik der US-Amerikaner.

    Also, die westliche Asylpolitik wird ja von mir in dem Buch kritisiert, weil sie einfach ideologisch nicht differenziert, und es damit auch Islamisten oder Leuten, die wir gemeinhin als Faschisten bezeichnen würden, also wirklich als Menschen, die einer menschenverachtenden Ideologie folgen, dass sie auch solchen Leuten Asyl gewährt, und der Algerier, auf den ich mich berufe, äußert nun sein Unverständnis darüber, dass der Westen offensichtlich in seiner Asylpolitik keine Werte hat, keine Werte kennt, und ich denke, da hat er sehr Recht - ich glaube allerdings nicht, dass wir mit den Mitteln der Asylpolitik tatsächlich die Geschicke der arabischen Welt beeinflussen können, weder positiv noch negativ.

    Bemerkenswert ist an den Mohammedanischen Versuchungen, dass Stefan Weidner ganz ohne Exotisierungen auskommt. Wie wenig er das Objekt seiner Erkundungsarbeit schont, zeigt sich vor allem, wenn er die sogenannten "Furien der Entzauberung" auf den Koran los lässt. Der nämlich wimmelt, wie sich heraus stellt, von Widersprüchen und Tiefschlägen gegen den gesunden Menschenverstand. Daher macht sich Stefan Weidner auch keine Hoffnungen, dass sein vielstimmiges Buch einen Verlag in der arabischen Welt finden könnte.

    Es gibt ein sehr großes arabisches Land, in dem dieses Buch unzensiert erscheinen könnte, und das wäre das arabische Exil.

    Stefan Weidner
    Mohammedanische Versuchungen
    Ammann Verlag, 239 S., EUR 18,90