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Pathos der Empathie

Die Stiftung Lesen zählt Wassili Großmans 1000-seitigen Stalingrad-Roman "Leben und Schicksal" zu den 100 größten Romanen des 20. Jahrhunderts. Dass nun bereits der dritte Großman in deutscher Übersetzung erscheint, zeigt, welche Wertschätzung der verstorbene Autor genießt.

Von Brigitte van Kann | 24.06.2010
    In der zweiten Hälfte der 50er-Jahre begann Wassili Großman seine lange Erzählung "Alles fließt". Im Russischen heißt diese Prosaform übrigens "povest'" – was sich leider mit keinem deutschen Begriff zutreffend wiedergeben lässt. Während er seinen Stalingrad-Roman "Leben und Schicksal", ein Epos Tolstoj'schen Zuschnitts, zu Ende führte, wandte sich der Autor mit "Alles fließt" einem genuin innersowjetischen Thema zu – dem Gulag, genauer, der Rückkehr von Millionen Menschen aus den Lagern nach Stalins Tod und besonders nach Chruschtschows Rede auf dem 20. Parteitag der KPdSU 1956. Das Wiederauftauchen der Opfer konfrontierte Täter und Mitläufer, Denunzianten und Spitzel mit sich selbst und ihrer Schuld. Niemand beschrieb die Situation so treffend wie Anna Achmatowa: "Zwei Russlands sahen einander in die Augen", sagte die Dichterin, "das Russland, das eingesperrt hatte, und das, welches eingesperrt gewesen war." Dem, was sich bei diesem Blick in den Herzen und Köpfen der Menschen ereignete, widmete Wassili Großman seine Erzählung "Alles fließt".

    Der Autor entschied sich in klassischer Manier für einen Helden, den er im ersten Kapitel nach 30-jähriger Haft in die Zivilisation der großen Metropolen zurückkehren lässt. Mit den Augen dieses Iwan Grigorjewitsch, einst ein hoffnungsvoller junger Wissenschaftler, nun ein gezeichneter alter Mann, betrachtet er Mitreisende und Passanten, die nur um sich und ihre kleinen und manchmal krummen Geschäfte zu kreisen scheinen. Der Heimkehrer sucht seinen Vetter auf, der inzwischen ein erfolgreicher Biologe ist und der Begegnung mit gemischten Gefühlen entgegensieht. Der Gegensatz könnte nicht größer sein: hier der ehemalige Häftling mit seinem Holzköfferchen, der geflickten Kleidung und den groben Stiefeln, dort der arrivierte Wissenschaftler, der vom guten Leben Fett angesetzt hat, in seiner Wohnung mit Parkett und Teppichen.

    Großmans Befund ist bitter – zu einer wirklichen Begegnung und Auseinandersetzung zwischen den beiden Russlands kommt es nicht. Er lässt seinen Heimkehrer nach Leningrad reisen, wo er unter dem Fenster der Frau steht, die er liebte und die schon nach einem Jahr keine Briefe mehr schrieb, weil sie einen anderen heiratete. Er geht, ohne zu klingeln. An einer Ampel läuft ihm der Mann über den Weg, der ihn durch eine Denunziation ins Lager brachte. Wieder blicken die beiden Russlands einander an, und der Täter fragt sich bange, ob das Opfer von seiner Schandtat weiß. Offenbar nicht, denn der Heimkehrer verliert kein Wort darüber. Der privilegierte Denunziant ist erleichtert. Das Mittagsmahl, das er anschließend, von zuvorkommenden Kellnern umsorgt, im eleganten Hotel Intourist einnimmt, verscheucht endgültig den Anflug einer unangenehmen Empfindung.

    Man kann vermuten, dass Wassili Großman die ursprünglich 70 Seiten starke Erzählung "Alles fließt" nach der Beschlagnahmung seines Romans "Leben und Schicksal" 1961 noch einmal überarbeitet und auf 200 Seiten erweitert hat. Das Manuskript mit den vielen eingefügten Seiten auf unterschiedlichem Papier und den handschriftlichen Einfügungen – wie es die Literaturwissenschaftlerin Franziska Thun-Hohenstein in ihrem Nachwort so anschaulich beschreibt – legt das jedenfalls nahe.

    "Alles fließt" ist Wassili Großmans Vermächtnis – nicht nur, weil er bis zu seinem Krebstod 1964 in einem Moskauer Krankenhaus daran gearbeitet hat. In die Erzählung von der Heimkehr des Iwan Grigorjewitsch fügte er viele der Überlegungen ein, die durch die Beschlagnahmung von "Leben und Schicksal" für immer einer Veröffentlichung entzogen schienen. Er präzisierte und verschärfte seine Erkenntnisse über das Wesen des totalitären Staates, in dem er lebte – und kritisierte nicht nur Stalin, was unter Beachtung bestimmter Spielregeln damals möglich war – sondern führte die Geschichte der sowjetischen Unfreiheit und Gewalt bis zu Lenin und seinen Mitstreitern zurück. Die Demontage Lenins war ein absoluter Tabuverstoß, der selbst in der Phase von Glasnost und staatlicher Auflösung, als das Werk erstmals in der Sowjetunion gedruckt wurde, noch heftigste Abwehr hervorrief.

    Wassili Großman schnitt den ursprünglichen Erzähltext an vielen Stellen auf und setzte kurze essayistische Kapitel, bisweilen auch Miniaturerzählungen dazwischen, jede für sich ein Prosastück eigenen Rechts. Formal ist "Alles fließt" ein Unikum, ein Patchwork-Text, den man von der Machart vielleicht mit einem Feature vergleichen könnte. So folgen auf Iwan Grigorjewitschs Begegnung mit dem Mann, dessen Verrat ihn ins Lager brachte, die Charakterisierung verschiedener Denunzianten-Typen sowie das Dramolett einer imaginären Gerichtsverhandlung gegen Spitzel und ihresgleichen. Im Plädoyer des Verteidigers offenbart der Autor seine eigene Sicht auf die komplizierte Materie:

    Wen soll man nun richten? Die Natur des Menschen! Sie ist es, die diesen Haufen Lügen, Gemeinheit, Feigheit und Schwachheit hervorbringt. Aber sie bringt ja auch das Gute und Reine hervor. Die Denunzianten und Spitzel haben alle möglichen Tugenden, lasst sie nach Hause gehen ... Ja, ja, sie sind unschuldig, finstere, bleierne Kräfte stießen sie vorwärts. Trillionen Zentner lasteten auf ihnen. Aber es gibt keine Unschuldigen unter den Lebenden ... Alle sind schuldig, du, Angeklagter, und du, Staatsanwalt, und ich, der ich über den Angeklagten, den Staatsanwalt und den Richter räsoniere. Aber warum schmerzt mich unser wüstes menschliches Wesen so, warum schäme ich mich so dafür?

    Wassili Großman rief nicht zu Rache und Vergeltung auf. Mit seinem erklärten Lieblingsschriftsteller Anton Tschechow verband ihn ein unbeirrbarer Sinn für Gerechtigkeit. Sein Pathos der Empathie und des Mitleids, der Menschlichkeit und Güte hätte die traumatisierte post-stalinistische Gesellschaft zur Aussöhnung mit sich selbst bringen können. Doch der Autor, nach der Beschlagnahmung seines Romans zur Persona non grata geworden, machte sich keine Illusionen über die Publikationschancen von "Alles fließt". Auf Wegen, die bis heute niemand genau kennt, tauchte der Text in den sowjetischen Untergrund ab, wo er im Samizdat, im dissidentischen "Selbstverlag", erschien und in den Westen gelangte. 1972 druckte ihn der Frankfurter Exilverlag "Possev". 1985, ein Jahr nach dem Erscheinen von "Leben und Schicksal" in deutscher Sprache, kam eine erste, mit Mängeln behaftete deutsche Übersetzung heraus. Heute, genau 25 Jahre später, liegt "Alles fließt" nun in der sorgfältigen Neu-Übersetzung von Annelore Nitschke vor, die Großmans hohem Ton in schöner Weise gerecht wird. Der Schluss, Iwan Grigorjewitschs Rückkehr in das Dorf seiner Kindheit, mag ein weiteres Beispiel dafür sein:

    Er hatte im Leben nichts erreicht, keine Bücher, Bilder oder Entdeckungen würden von ihm bleiben. Er hatte keine Schule, keine Partei gegründet, er hatte keine Schüler gehabt. .... Er hatte nicht gepredigt, nicht gelehrt, er war der geblieben, der er von Geburt an war – ein Mensch.
    Der Berghang lag offen vor ihm, hinter dem Pass zeigten sich die Kronen der Eichen. ... Vielleicht stand sein Vaterhaus noch ebenso unverändert, wie die Straßen und der Bach unverändert geblieben zu sein schienen.
    Noch eine Kurve. Für einen Augenblick war ihm, als erstrahlte die Erde in einem unglaublich grellen Licht, wie er es noch nie gesehen hatte. Noch ein paar Schritte – und er wird das Haus in diesem Licht erblicken, die Mutter wird ihm, dem verlorenen Sohn, entgegenkommen, er wird vor ihr niederknien, und ihre jungen, schönen Hände werden sich auf seinen grauen, kahlen Kopf legen.
    Er erblickte Dornengestrüpp, Hopfendickicht. Kein Haus, kein Brunnen, nur ein paar Steine schimmerten weiß aus dem staubigen, von der Sonne verbrannten Gras.
    Hier stand er – grau, gebeugt und dennoch derselbe, unverändert.


    Wassili Großman, "Alles fließt". Aus dem Russischen von Annelore Nitschke. Mit einem Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein. Ullstein Buchverlage, Berlin 2010. 255 Seiten.