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"Peer Gynt" am Schauspiel Stuttgart
Ambitiöser Firlefanz

Christopher Rüping hat am Schauspiel Stuttgart Ibsens Selbstfindungsstück "Peer Gynt" mit Edgar Selge in der Hauptrolle inszeniert. Was vielversprechend klingt, endet in einem nervenden, zweieinhalbstündigen Banalgelaber, findet unser Kritiker. Selge wirke wie ein gutwilliger Fremdkörper in diesem RTL-Talkshow-Theater.

Von Christian Gampert | 21.06.2015
    Warum müssen alle halbwegs brauchbaren Stücke übermalt und umgeschrieben werden - von Leuten, die ersichtlich nicht schreiben können? Warum muss unter gigantischem Aufwand eine Riesenbühne in ein Schlachtfeld verwandelt werden, damit am Ende ein kleiner Mensch im weißen Hemd, der Schauspieler Edgar Selge, vor einer Frau kniet und nach dem Sinn fragt?
    Es gibt keinen Sinn, wispern die Frauenstimmen im Off. Das mag schon sein. Aber so viel Un-Sinn wie in Stuttgart gibt es selten. Angekündigt war ein Abend mit fünf Frauen und Herrenchor, und der Aufwand erklärt sich daraus, dass sich die Hauptfigur dem kindischen Treiben einfach entzieht. Edgar Selge ist weitgehend nicht anwesend. Man wolle, schreibt der Dramaturg Bernd Isele im Programmheft, den notorischen Aufschneider, Geschichtenerfinder, den Lügenbaron Peer Gynt über "den Vorgang des Erzählens an sich" fassbar machen, ergo: Ibsens Leitmotiv des Sich-Selbst-Belügens, des Lügenerzählens erzählen. Das klingt ziemlich überzeugend. Aber der Regisseur Christopher Rüping macht dann aus Ibsens dramatischem Gedicht ein nervendes zweieinhalbstündiges Banalgelaber, das von einem aufgespeedeten Zicken-Quintett ziemlich großkotzig performt wird. Fünf verführerische Hexen, kreischende Girlies beim Vorsprechen. Alle Figuren werden aufgebrochen, vermehrfacht, ständig vertauscht. Nur wenn Selge kommt, gibt es Konzentration und Nachdenklichkeit. Aber was hat er in diesem Amazonen-Club verloren? "Hol die Pest euch Weiber alle", ruft er an einer Stelle, und muss sich auf Geheiß des Regisseurs dann doch...nun, nicht 70 Jungfrauen, aber doch 24 gut situierte Damen aus dem Publikum anlachen, die er nebst der Souffleuse ins Foyer entführt.
    "Ich nehme noch 24 Frauen mit! Jetzt mal ganz im Ernst, Ruhe! Ich hab ein kleines Separee gemietet, da passen 24 Frauen rein. Für ein kleines Aktle..."
    Das sind so die Höhepunkte des Stuttgarter Entertainment, und erstaunlich bleibt, dass uralte Formen albernsten Mitmachtheaters auf einmal wieder als der letzte Schrei gelten. In der Pause darf sogar das Publikum Lügengeschichten erzählen, rührend.
    Gynt geht ins Nichts - wie die Aufführung auch
    Peer Gynt läuft ein Leben lang vor sich selbst davon, er verliert sich in Affären, Geschäften und Reisen. Aber selbst in Stuttgart hat er einen Bezugspunkt: Solveig, die ihn liebt und die ihm treu ist. Die Szene, in der die beiden sich ansehen, sich erkennen, sich ineinander vergucken, gehört zu den wenigen intensiven Momenten des Abends. Das wird natürlich sofort ironisch gebrochen und kommentiert. Nathalie Thiede, die Solveig, muss dann den ganzen Abend an der Seite sitzen und auf ihren Peer warten. Und sie muss dabei den ambitiösen Firlefanz ertragen, den Christopher Rüping auf der großen Bühne veranstaltet: Ein Herrenchor singt dunkle Weisen, die auf Edward Griegs Peer-Gynt-Suite basieren, und bringt die von Edgar Selge entführten Frauen zurück in den Saal. Dabei tragen die Herren sinnigerweise Brautschleier. Peer bei den Trollen: Das ist bei Rüping eine Szene, die irgendwo zwischen sexualisiertem Ballett und Action Painting changiert; jedenfalls wird die ganze Bühne und werden sämtliche Frauenkörper mit Farbe gründlich eingesaut. Die korpulente Souffleuse muss die Ingrid spielen, die einen anderen heiraten soll und von Peer an ihrem Hochzeitsabend entführt wird, sehr lustig. Der Tod der armen Mutter Aase wird personell so aufgespalten, dass keinerlei Gefühl entstehen kann. Marokko und Ägypten finden nicht statt, dafür erzählt das Publikum.
    Edgar Selge wirkt wie ein gutwilliger Fremdkörper in dieser RTL-Talkshow-Theater. Peer Gynt häutet sich ja angeblich wie eine Zwiebel, die aber keinen Kern hat - dieses Grundmotiv müsste man spielen. Lehrmeister Rüping aber lässt zwecks Veranschaulichung einen ganzen Container auf die Bühne fahren (Staatsknete haben wir ja!), aus dem immer neue Kistchen mit Scheinwerfern ausgeladen werden - aber erleuchtet wird hier nichts. Am Ende darf das Publikum abstimmen: Kehrt Peer Gynt zu Solveig zurück? Oder geht er weiter ins Nichts? Er geht ins Nichts, in den Orkus - wie die Aufführung auch.