Samstag, 27. April 2024

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Peter Rühmkorf: "Tabu II, Tagebücher 1971-1972"

Die Berliner Ausstellung "Zur Vorstellung des Terrors - Die RAF", deren ansehnlicher zweibändiger Katalog Klaus Biesenbach herausgegeben hat und der bei Steidl in Göttingen erschienen ist, hat ganze Legionen von Zeitgenossen von Baader & Co, aber auch von Nachgeborenen zum Raisonnement veranlasst. Herausgekommen ist dabei wenig. Typisch für die vielen intellektuellen Luftnummern ist ein Aufsatz, den Wolfgang Kraushaar zu dem in der Hamburger Edition erschienenen - in jeder Beziehung - kleinen Band "Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF" beigesteuert hat.

28.02.2005
    Der Chronist der Protestbewegung dokumentiert darin Dutschkes Ablehnung des Terrorismus und will ihn gleichwohl als dessen Vordenker entlarven. Kraushaar fahndet in Dutschkes Zettelkästen nach belastendem Material, ignoriert Zusammenhänge und deutet sogar das Eintreten des Studentenführers für das Recht auf Tyrannenmord als Sympathie für den Terrorismus. So entsteht mit linker Feder eine Indizienkette, die auf begriffliche und argumentative Präzision schon deshalb verzichten muss, weil der Autor ganz offensichtlich beweisen will, was die Springer-Presse - das kann man in dem eben genannten Ausstellungskatalog nachlesen - dem Volk schon immer in den Mund gelegt hat: dass nämlich die RAF nichts anderes als die Fortsetzung der Studentenbewegung mit anderen Mitteln sei. Ungemein frisch und treffsicher ist dagegen, was der Dichter Peter Rühmkorf bereits im Mai 1971 zum Thema Baader-Meinhof-Komplex zu Papier gebracht hat und was man jetzt in seinem Band "Tabu II - Tagebücher 1971 - 1972" nachlesen kann.

    Theatralischer Auftakt des spukhaften Spektakels: die Brandlegung in zwei Frankfurter Kaufhäusern am 3. April 1968, in einem Moment also, als die Feuer der "Bewegung" bereits heruntergeflackert waren. Sie war gedacht durchaus! als flammendes Fanal gegen eine Gesellschaft, deren soziale Glücksvorstellungen sich im Traum von einer ausweglosen Einkaufs und Verkaufsgenossenschaft inkorporierten. Nur dass die Leuchtzeichen seitens des verratenen und verkauften Kaufpublikums gar nicht verstanden wurden; alles, was man aus der Flammenschrift herauslas, war, dass besserer Bürger Kinder ihren Scherz mit geschätzten Konsumwerten trieben -, was man folgerte, war, dass linke Politik auf eine Vernichtung des gesamten Wohlstands ziele; ungeteilter Applaus war einzig aus den Renommierkellern des Underground zu vernehmen und spitzfingrig, aber anhaltend - aus den Logen eines linksliberalen Bildungsbürgertums, das sich aufs Symbolelesen verstand und die höheren Weihen einer mystisch symbolischen Partizipation.

    Damit war der dramaturgische Rahmen geschaffen bzw. die Freilichtbühne eröffnet, in der sich in den folgenden fünf Jahren (ein halbes Jahrzehnt lang!) das modernste und radikalste Aktionstheater der Bundesrepublik entwickeln sollte. Zu ihren Faszinationsmomenten zählten
    a) ein Laienensemble mit frischen und dennoch einprägsamen Gesichtern;
    b) ein hohes und gleichwohl unverfrorenes Sendungsbewusstsein;
    c) eine rabiate, wenn auch weithin unverständliche Symbolsprache,
    d) rücksichtslose Bereitschaft, den politischen Spielboden zu skandalisieren;
    e) extreme Beweglichkeit, mobiler Spielraum;
    f) Rollendurchlässigkeit bis zum Persönlichkeitsumschlag: Schreibkräfte als Gewalttäter, Nonkonformisten in der Banden-Klammer, Bürgerkinder als Feinde des bürgerlichen Staates;
    g) Einbeziehung des Publikums bis zur persönlichen Inanspruchnahme.

    Dies und in Sonderheit die Vermischung von Bühne und Leben, Kunst und Politik, Überbauwesen und Untergrundtätigkeit führte zeitweilig zu Formen des totalen Theaters, wie sie von der Bühnenavantgarde vergebens angestrebt wurden. Nur, Aufklärungstheater, geeignet, dem Publikum einige wesentliche Lichter über seine eigene Rolle aufzustecken, wollte sich weder hier wie dort abzeichnen. Gemessen an seinen erklärten Entlarvungsabsichten und den Reaktionen des Publikums - des breit abblockenden und des sympathetisch mitschwingenden - wurden B & M zum übergreifenden Modellfall von spätbürgerlichem Vexiertheater, in dem schließlich nichts mehr stimmte: weder der Ort noch die Zeit, weder die Wahl der Zeichen noch das Bild der Zielgruppe, weder das Verhältnis der Ausstattung zum Effekt noch die Relation von Theaterdonner und Resonanz an der Basis.

    Dass die Truppe zeitweilig mit fast artistisch zu nennender Bravour operierte, verschaffte ihr anhaltende Aufmerksamkeit im Guten wie im Bösen. Während die Stadttheater bei schwindendem Publikumszulauf um Subventionen barmten, organisierte man sich hier seine Subsidien im Alleingang, wobei die Mittelbeschaffung selbst zum autonomen Spektakel wurde. Die rasanten Versorgungsaktionen mit hochtourigen Thespiskarren hielten die Ruhestandsrepublik in Atem wie ein Fortsetzungskrimi. Die hochfrequenten Szenenwechsel und ein atemberaubendes Tempo der Umdekoration - vertauschte Haare und frisierte Autos, dramatische Umkleidesoli und verwegene Passfälschertricks - schafften einen äußerst breiten Sensationsrahmen, der sich zur Identifikationszone brennpunkthaft zusammenzog, wo immer problematisiertes Bürgertum an seiner eigenen Identität zu zweifeln begonnen hatte. Eines der stärksten Anziehungsmomente war zweifellos das immer heimlich mitgeführte Angebot zur Teilnahme. Der Gewissensappell zur Konspiration erhob selbst kleinere Beiträge - ein Zimmer für eine Nacht, einen Hunderter für unterwegs - in den Rang von Handlung. Die bloße Vorstellung, dass plötzlich vermummte Quartiermacher auftauchen könnten, den ohnmächtig in Gedanken sich wälzenden Stubenhocker aus seiner Isolierung zu erlösen und ihm heimlich und kurzfristig das Gefühl von Mittäterschaft zu vermitteln, eröffnete einen Illusionsraum, mit dem verglichen das professionelle Mitmachtheater zum bloßen Genre schrumpfte.

    Von dieser Welt war es trotzdem nicht. Die ideologische Formierung der kriegführenden Parteien - hier RAF mit weltbreiter Frontstellung gegen den gesamten Kapitalismus, dort die Frontseiten der Springerzeitungen mit zunehmend auf RAF sich einengender Zieloptik -, es glich allmählich einem Geisterkrieg, in dem RAF sich ihre Bedeutung von der "Bild Zeitung" zudiktieren ließ. Nach allem, was "Bild" über RAF zusammenfabelte, wofür musste sie sich halten? Für die "Rote Armee" persönlich - worüber sie verfügte, waren einige Handfeuerwaffen, heimgemachte Knallkanister und ein Paar Kilo Sprengmasse (bloßes militärtechnisches Bric-à-brac, verglichen mit einem Aufwand von 73 Rüstungsmilliarden). In welche Rolle ließ sie sich hineinwiegeln? In die eines "Staatsfeindes
    Numero 1" - sie war das Gegenteil, der lang herbeigesehnte Grund, die Polizeien der Länder neu zu koordinieren und den Ausbau von Sondereinheiten zu rechtfertigen. In einem einmaligen geschichtlichen Augenblick, wo nichts so nötig gewesen wäre, als langsam in die Institutionen einzusickern, hielt RAF dafür her, die bundesdeutsche Linke zu einem Schreckgespenst umzuspiegeln. Sie verwechselte die von der Rechtspresse planmäßig aufgestockte Heldenbühne mit einem archimedischen Punkt im Gelände und lieferte den von Amts wegen nur schwer erzeugbaren Spezialnebel, hinter dem sich die zunehmende Militarisierung unserer Wirtschaft billig verbergen konnte. Obwohl das B & M-Ensemble seine Aktivitäten gern als Beiträge zur Entschleierung der Herrschaftsverhältnisse bezeichnete, gründete seine theatralische Sendung doch zunächst in seiner eigenen ideologischen Verblendung, die half es ausbreiten auf der untersten Selbsttäuschungsebene sowohl wie auf der höchsten, der Sympathisantengalerie. Selbstverständlich gibt es schichtenspezifische Eintrübungen von Bewusstsein, wobei für uns jene oberschichtenspezifische Neigung von Interesse ist, sich eine nicht vorhandene Basis aus dem Kopf zu stampfen. Hat man sich nämlich erst einmal die Verhältnisse auf den Kopf gestellt, wird jede Vorstellung zur Theatervorstellung, lässt das magische Denken kein Ende mehr absehen und verkehrt sich Revolution zur autonomen Tätigkeit der inneren Umwälzpumpe. Schön und schlagend zum Beispiel das Beispiel vom Volke, in dem sich der Revolutionär bewege wie der Fisch im Wasser. Frage nur, wenn es für ihn dies Volk real gar nicht gibt, was dann mit seiner Bewegung wird? Vermutlich wird es auf eins herauskommen, ob er sein Trockenrudern "Die Bewegung" nennt oder gleich "movens" (was einmal eine hochformalistische Kunstrichtung der mittleren Fünfziger war) oder ob er sich wie der Aktionskünstler Bazon Brock aIs "Beweger" tituliert.

    Peter Rühmkorf: "Tabu II, Tagebücher 1971 - 1972."
    Rowohlt Verlag (Reinbek bei Hamburg)
    399 Seiten, 22,90 Euro.

    Hier noch eine weitere, kurze Lektüre-Empfehlung: "Wenn ich mal richtig ICH sag". So ist ein großformatiges Lese-Bilderbuch von und über Peter Rühmkorf überschrieben, das zum 75. Geburtstag des Autors im Göttinger Steidl Verlag erschienen ist. Auf 153 Seiten versammelt dieser Band Bilder, Dokumente und Texte, die Auskunft geben über ein bewegtes Dichterleben und Peter Rühmkorf ausweisen als undogmatischen "Fechter auf den Paukböden der Tagespolitik".