Freitag, 19. April 2024

Archiv


Plädoyers für ein neues Europa

Drei Autoren, zwei Bücher: Daniel Cohn-Bendit und Guy Verhofstadt, aber auch der Österreicher Robert Menasse haben eines gemeinsam. Sie wollen die Europäer aufwiegeln, zu einer Revolution anstacheln. Ob's gelingt?

Von Günter Kaindlstorfer | 15.10.2012
    Drei reiten für Europa. Dass sich Daniel Cohn-Bendit und Guy Verhofstadt in ihrer 140-seitigen Philippika für den europäischen Einigungsprozess in die Bresche werfen, überrascht nicht weiter. Von Robert Menasse, dem Wiener Progressisten, hätte man das in dieser Form vielleicht nicht erwartet. Und doch: Seit sich Menasse vor einigen Jahren zu Roman-Recherchezwecken eine Wohnung in Brüssel genommen hat, ist er zum EU-Enthusiasten geworden:

    "Ich wusste nichts von Brüssel. Brüssel war für mich die Hauptstadt Belgiens und Sitz europäischer Institutionen."

    Und dann diese verblüffende Wandlung: In den Korridoren der EU-Bürokratie hat Menasse eine Überraschung nach der anderen erlebt.

    "Erste Überraschung: Die EU-Kommission ist eine transparente Institution. Ich fand offene Türen vor und auskunftsbereite Beamte. Zweite Überraschung: Die Brüsseler Bürokratie ist extrem schlank. Die EU hat zur Verwaltung des ganzen Kontinents weniger Beamte zur Verfügung als die Stadt Wien allein. Dritte Überraschung: Die Brüsseler Bürokratie ist extrem sparsam und bescheiden. Die Arbeitszimmer der Beamten sind, selbst in den oberen Etagen der Hierarchie, funktional, sonst nichts. Da gibt es keinen Luxus."

    Seine Erfahrungen in Brüssel haben Menasse zum EU-Fan gemacht. Darüber hinaus, dieser Schlenker muss erlaubt sein, hat sich der Wiener Autor schlicht und einfach in die belgische Hauptstadt verliebt.

    "Ich finde Brüssel extrem charmant. Für mich ist es die schlampige, lässige, schöne, aber vielleicht auch leicht heruntergekommene kleine Schwester von Paris. Und wenn ich die Wahl habe zwischen einer Aufgebrezelten und einer Lässigen, dann habe ich die Lässige lieber."

    Ob Guy Verhofstadt und Daniel Cohn-Bendit es lieber lässig oder lieber aufgebrezelt haben, ist nicht bekannt. In Sachen Europabegeisterung allerdings stehen die beiden dem Wiener EU-Aficionado Menasse in nichts nach. In ihrem pro-europäischen Manifest schlagen Verhofstadt/Cohn-Bendit von Anfang an einen predigerhaften Ton an:

    "Europa wankt in seinen Grundfesten. Die Eurokrise wütet ungehindert. Aber diese Krise ist nur ein Symptom einer viel tieferen Krise, einer Krise, mit der die EU seit langem ringt. Eine existentielle Krise. Eine komplexe Krise. Eine Poly-Krise, wie Edgar Morin es nennt: wirtschaftlich, demographisch, ökologisch, politisch und institutionell."

    Rettung zu bringen vermag da in den Augen der Autoren, erraten, allein die EU. Wie Menasse plädieren auch Verhofstadt/Cohn-Bendit für eine elementare Vertiefung des europäischen Einigungsprozesses. Der "Europäische Rat" der Staats- und Regierungschefs, das informelle Machtzentrum der EU, müsse geschwächt, Parlament und Kommission müssten gestärkt werden, fordern der belgische Liberale und der deutsch-französische Grüne. Darüber hinaus plädieren die beiden in ihrer Streitschrift für einen Wachstumspakt für Südeuropa, für massive Investitionen in "Grüne Ökonomie", für eine liberale Migrationspolitik und für die Einführung einer europäischen Staatsbürgerschaft anstelle der alten nationalen Staatsbürgerschaften. Zentralistisch verwaltet dürfte die Super-EU allerdings nicht sein, darauf legen Verhofstadt/Cohn-Bendit Wert:

    "Europa ist und bleibt ein facettenreicher Bienenkorb, kein werdender Superstaat. Der Bienenkorb muss auch für ein vereinigtes und föderales Modell weiterhin Modell bleiben, vereinigt, um die bunte europäische Identität zu bewahren und zu behüten, nicht, um sie zu nivellieren oder um eine Glasglocke darüberzustülpen."

    Robert Menasse sieht das alles nicht viel anders. Die EU als Friedensprojekt sei zu wichtig, postuliert der Schriftsteller, um sie fantasielosen Finanz- und Polit-Technokraten zu überlassen. Und die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise? Menasses Einschätzung dazu klingt fast frivol:

    "Ich bin ein Fan dieser Krise, das stimmt."

    Denn sie zwinge die europäischen Nationalstaaten, die politische und wirtschaftliche Einigung des Kontinents voranzutreiben. Die Staatsverschuldung Griechenlands jedenfalls, glaubt Menasse, sei nicht das Problem:

    "Der Betrag, um den es da geht, beläuft sich auf zwei Prozent des Bruttosozialprodukts Europas. Das ist im Grunde lächerlich. Das ist weniger als die Hälfte dessen, was jährlich bis heute die Finanzierung der deutschen Wiedervereinigung kostet."

    Auch wenn in solchen Berechnungen ein gewisser Interpretationsspielraum bleibt: in der Tendenz hat Menasse sicher Recht. Hart und kompromisslos geht der Wiener Autor in seiner Streitschrift mit der EU-Politik Deutschlands ins Gericht.

    "Deutschland verdient ja sogar an den Schulden Griechenlands: Wenn Deutschland bei der Zentralbank Kredite aufnimmt um einen Prozent Zinsen, das Geld mit fünf Prozent Verzinsung an Griechenland weitergibt und den Griechen sagt, ihr könnt froh sein, weil am freien Markt zahlt ihr 15 oder 20 Prozent, wir geben euch das Geld um fünf Prozent, ist das in Wirklichkeit eine Sauerei. Die Deutschen machen noch ein Geschäft damit, und gleichzeitig schüren sie Ressentiments bei den eigenen Steuerzahlern."

    Robert Menasse hat einen Traum: Er träumt von einem "nach-nationalen Europa", von einer "freien Assoziation der Regionen", die von starken, übernationalen, demokratischen Institutionen verwaltet wird.

    "Entweder geht das Europa der Nationalstaaten unter, oder es geht das Projekt der Überwindung der Nationalstaaten unter... Entweder wird Europa einmal mehr, aber diesmal friedlich, die Avantgarde der Welt, oder Europa wird definitiv vor der Welt beweisen, dass bleibende Lehren aus der Geschichte nicht gezogen werden können."

    "Der Nationalstaat gehört durch erzwungene oder vereinbarte Preisgabe seiner Souveränitätsrechte immer weiter zurückgedrängt, bis er am Ende abstirbt."

    Menasse weiß: Ein Intellektueller, der sich der Welt im Ornat des seherischen Enthusiasten präsentiert, ist in Gefahr, sich lächerlich zu machen.

    "Also, ich denke sicher utopischer als die Frau Merkel. Aber die Frau Merkel regiert Deutschland, und ich regier nur meinen Schreibtisch: Ich kann mir erlauben, viel kühner zu denken."

    "Der europäische Landbote" ist ein anregender Text, meinungsstark, ironisch und flott zu lesen. An Cohn-Bendits/Verhofstadts Streitschrift verstört bisweilen der schwungvoll missionarische Ton, das klingt doch manchmal allzu deutlich nach Erweckungspredigt. Aber vielleicht ist der EU in ihrer bisher schwersten Krise nur mehr so zu helfen: durch inbrünstiges Predigen



    Daniel Cohn-Bendit, Guy Verhofstadt: "Für Europa!: Ein Manifest."
    Carl Hanser Verlag,
    141 Seiten, 8 Euro.
    ISBN: 978-3-446-24187-9


    Robert Menasse: "Der Europäische Landbote: Die Wut der Bürger und der Friede Europas oder: Warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften weichen muss."
    Paul Zsolnay Verlag, 112 Seiten,
    12,50 Euro
    ISBN: 978-3-552-05616-9