"Man schafft es, seine fixen Kosten zu bezahlen, eventuell noch seinen Großeinkauf, und dann fängt es an: Wie bezahle ich die Schulmaterialien meiner Tochter zum Beispiel? Wie bezahle ich selbst die Bewerbungen - man bekommt zwar die Bewerbungen bezahlt, aber erst nachher, und man muss das ja alles vorstrecken, und das ist natürlich ein immenser Betrag? Und halt die anderen übrigen Kosten wie Hausratversicherung oder Kontogebühren, dann Geburtstage, Feiern, Weihnachten. Das muss man alles selber tragen, die Klassenfahrten muss ich selber tragen, die meine Tochter hat, ja, wie man damit leben kann? Eigentlich gar nicht."
Regine Solms, 40 Jahre alt, gelernte Kauffrau für Groß- und Außenhandel, wurde im Jahre 2002 arbeitslos, als ihr Arbeitgeber Insolvenz anmeldete. Nun bekommt sie Arbeitslosengeld II. Ein Sohn ist schon aus dem Haus, ein anderer leistet gerade seinen Zivildienst ab. Für den Lebensunterhalt von Regine Solms und ihrer Tochter, die noch zur Schule geht, zahlt das Sozialamt monatlich 662 Euro - ein Betrag, der gerade für das Allernötigste reicht und gelegentlich nicht mal dafür.
"Also, für Unternehmungen, dass ich und die Kinder ordentlich gekleidet sind, müssten es schon 500 bis 800 Euro im Monat mehr sein, sonst kann man das nicht bestreiten. Oder jetzt auch eine Anschaffung wie eine Waschmaschine, kann man sonst nicht, geht nicht, man kann auch nichts zurücklegen. Ich hab es ja immer wieder versucht, mir auch etwas von dem Geld zurückzulegen, aber es ist einfach nicht machbar, weil, dann kommen immer andere Dinge dazwischen, die bezahlt werden müssen. Und das ist auch für mich sehr, sehr wichtig, dass meine Kinder nicht in allem nachstehen müssen. Sie sind zwar sehr genügsam, aber irgendwo möchten sie doch mit dabei gehören."
345 Euro bekommt heute ein allein lebender Arbeitslosengeld-II- oder Sozialhilfe-Empfänger zum Lebensunterhalt, Kinder unter 14 Jahren oder ältere Angehörige, die mit in der Bedarfsgemeinschaft leben, erhalten 60 beziehungsweise 80 Prozent dieses Satzes. Sozialverbände und Wissenschaftler kritisieren den Regelsatz als unzureichend.
Was aber ist angemessen? Die Frage, wie viel man denjenigen Mitgliedern der staatlichen Gemeinschaft zubilligen sollte, die nicht für sich selber sorgen können, ist alt. Mit wissenschaftlicher Begründung und verbindlich für das ganze Bundesgebiet hat der Gesetzgeber sie zum allerersten Mal vor 50 Jahren zu beantworten versucht. 1955 entwickelte der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge den so genannten Warenkorb. Er sollte die Willkür beenden, die noch Anfang der 50er Jahre bei der Bemessung der Fürsorgerichtsätze herrschte. Damals wurde das Existenzminimum in einem Bundesland in Anlehnung an die Löhne ungelernter Arbeiter ermittelt, in einem anderen ging man nach den örtlichen Erfahrungen der Fürsorgepraxis, und in einem dritten Land versuchte man, mit praktischen Kochversuchen zu ermitteln, wie viel ein Armer wohl brauche. Walter Schellhorn, Anfang der 50er Jahre schon in der Fürsorge tätig und später jahrelang Geschäftsführer des Deutschen Vereins für öffentliche und soziale Fürsorge, schätzt den Warenkorb denn auch als sozialpolitische Errungenschaft erster Güte ein:
"Insgesamt war das Gefälle in der Bundesrepublik unvertretbar hoch. Nach meiner Erinnerung war der Unterschied über ein Drittel in der Höhe des Fürsorgerichtsatzes, und das ist natürlich schon ein gewaltiger Wert bei diesen Existenzmitteln. Und es war ein großer Fortschritt natürlich einmal, nun zu bündeln und zu sagen: Wir müssen da mehr objektive Grundlagen hereinbringen, wir müssen sehen, dass wir mehr Fachleute aus den einzelnen Bereichen der Ämter heranbringen, Fachleute: Ernährungswissenschaftler, Haushaltswissenschaftler, Statistiker, die versuchen, uns Mittel zu geben, Hilfsmittel dafür, um den Verbrauch und Bedarf besser zu definieren."
Kernseife, Konsumware 1 Stück = 200 g
Preis je Einheit: 27 Pfennig
Menge: 0,5
Aufwand: 14 Pfennig
Ersatzstoff für Wäscheausbesserung, Linon, 80 Zentimeter breit, 1 Meter
Preis je Einheit: 1,58 DM
Menge: 0,167
Aufwand: 26 Pfennig
Briefporto im Fernverkehr, 1 Brief
Preis je Einheit: 22 Pfennig
Menge: 1
Aufwand: 22 Pfennig
10.000 Gramm Mischbrot
15.000 Gramm Kartoffeln
3 Eier
10.200 Gramm Vollmilch
360 Gramm Schweineschmalz
240 Gramm Erbsen
Auf die Erbse genau errechnete ein Ernährungsphysiologe vom Max-Planck-Institut, was ein männlicher oder weiblicher so-und-so-alter Mensch für eine vollwertige Ernährung brauchte, und wie man diesen Bedarf mit bescheidenen Mitteln decken könnte. Kalorien, Eiweiß, Kohlehydrate und Fett waren jeweils genau ausgewiesen. Haushaltswissenschaftler ermittelten, was zur Haushaltsführung sonst noch notwendig sei. Zum ersten Male in der Geschichte der Fürsorgerichtsätze wurden aber auch soziale Bedürfnisse der Hilfeempfänger berücksichtigt, zum Beispiel Beiträge in Vereinigungen oder die Fahrtkosten zur Grabstätte von Angehörigen. Und neben diesen für alle geltenden Posten konnten die Sachbearbeiter der Fürsorgestellen weiterhin im Einzelfall und bei besonderem Bedarf höhere Zuwendungen genehmigen.
Walter Schellhorn betont, dass es dem Gesetzgeber schon damals nicht nur um das reine Überleben der Fürsorgeempfänger ging:
"Man weiß, wenn man aus meiner Generation kommt, die den Krieg gemacht hat und bald vier Jahre in Kriegsgefangenschaft war, mit was man eigentlich als Mensch leben kann. Mit was für wenig. Das ist aber nicht das entscheidende Kriterium, war es nie in der Fürsorge - und noch weniger in der Sozialhilfe. Sondern es muss ja über das reine, das nackte Existenzminimum hinaus auch die Würde des Menschen gewahrt werden. Das heißt, er muss in seiner Umgebung leben können, dass er nicht von vornherein in der Höhe seiner Leistung und seinem Verhalten abfällt gegenüber anderen vergleichbaren Bevölkerungsteilen."
Im Bundessozialhilfegesetz von 1961 wurde der Bezug zur grundgesetzlich verbrieften Menschenwürde erstmals ausdrücklich hergestellt. Und das, was als menschenwürdiges Leben angesehen wurde, entwickelte sich mit steigendem Wohlstand stetig weiter. Der Warenkorb von 1962 enthielt bereits mehr Gemüse und Obst, mehr Fleisch und Eier, und dafür weniger Kartoffeln als der von 1955. Erstmals wurde dem Hilfeempfänger auch ein Kinobesuch zugestanden. 1970 fanden sich mehr und teurere Sorten Fleisch im Warenkorb, mehr und feinere Gemüsesorten, Käse, Obstkonserven, Südfrüchte, Feingebäck, Süßwaren und dafür weniger Mehl, Nährmittel und Hülsenfrüchte. Auch den Frauen wurde nun ein kleines Quantum Tabak zubemessen. Weil inzwischen viele Haushalte über einen Fernsehapparat verfügten, hatte man die Kinokarte allerdings halbiert, was in der Folge noch häufig für Spott und harsche Kritik sorgen sollte. Überhaupt mehrten sich kritische Stimmen, die trotz aller Verbesserungen im Detail die Höhe der Sozialhilfesätze für unzureichend befanden.
Tatsächlich war das ermittelte Existenzminimum trotz aller Expertise sehr bescheiden. Die Fachleute des Deutschen Vereins blieben mit ihren Berechnungen stets unter dem, was ein gering verdienender Haushalt für seinen laufenden Unterhalt ausgab, vor allem im Bereich der "persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens". Das gebot übrigens schon die Bestimmung des einzuhaltenden Abstands zum Lohn. Vorschläge, sich den aufwändig errechneten Warenkorb deshalb zu schenken und gleich an die Einkommen der Geringverdiener anzudocken, wurden vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge aber abschlägig beschieden.
Die Fachleute des Deutschen Vereins bestanden darauf, weiterhin akribisch zu ermitteln, was ein Mensch ihrer Ansicht nach zu einem würdevollen Leben benötigte. Sollte das in Ausnahmefällen mal mehr sein, als die unteren Lohngruppen verdienten, was bei großen Haushalten mit mehreren Kindern vorkam, wollte man sich an diesem Bedarf und nicht am Lohnabstandsgebot orientieren. Besonders alleinstehende Rentnerinnen fristeten Ende der 70er Jahre allerdings ein ziemlich kümmerliches Leben, wie es auch diese alte Frau 1978 einer Journalistin schilderte:
"Im Januar hat mir jemand gesagt, ich soll hingehen aufs Sozialamt und soll mir holen... Mir steht außer Diätkosten noch alles Mögliche zu, auch etwas Wäsche und Schuhe, und was ich brauche. Da bin ich im Januar aus Verzweiflung hingegangen. Und ich habe mir lassen ein Paar Schuhe bescheinigen, die ich leider nicht kaufen konnte, weil ich nichts zum Leben hatte. Ich habe mir lassen einen Morgenrock bescheinigen, konnte ich mir aber nicht kaufen. Ich hab bekommen 200 und noch was. Ich hab alles schriftlich, kann alles nachgesehen werden. Aber Sie glauben nicht, wie bitter das Leben ist."
Als der Deutsche Verein 1980 in der Frankfurter Paulskirche sein 100-jähriges Bestehen feierte, standen draußen Demonstranten und forderten, dem Verein seine Aufgabe zu entziehen und direkt die Politik mit der Festsetzung der Regelsätze zu beauftragen. Walter Schellhorn, damals Geschäftsführer des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, erinnert sich:
"Es ist registriert worden, auch von den anwesenden Politikern, dass Hilfeempfänger und ihre Vertretungen mit dem, was sie erhalten, nicht zufrieden sind und dass sie bezweifeln, ob die Berechnung richtig ist. Sie wollten die Berechnung mehr in die öffentliche Verantwortung lagern. Nun kann man natürlich - das ist etwas boshaft - sagen: Sie haben besser dagestanden und sind besser gefahren, als es aus der öffentlichen Verantwortung des Bundes herausgenommen worden ist. In dem Zeitraum. Denn die Berechnungen des Deutschen Vereins, die auf Sachverständigengutachten beruhen, hätten ihnen mehr gebracht als das, was später dann herausgekommen ist über die Steuerung durch die Bundesministerien und die Länder."
25 Jahre nach der Veranstaltung in der Paulskirche, im November 2005, tagt der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) in Wuppertal zum Thema soziale Kälte. Dass heute das "soziokulturelle Existenzminimum" von einem Bundesministerium definiert wird, hat den Sozialhilfebeziehern tatsächlich nichts gebracht. Im Gegenteil: Die in Wuppertal versammelten Vereine, Initiativen und Verbände haben Fakten über die schlechteren Bildungschancen und die angegriffene Gesundheit von Kindern sozial schwacher Familien zusammentragen.
Die Kaufkraft der Sozialhilfebezieher hat im Vergleich zu früheren Jahren sogar noch abgenommen. Denn obwohl man sich Ende der 80er Jahre entschieden hatte, die Höhe der Sozialhilfe künftig an die Verbrauchsgewohnheiten der unteren Einkommensschichten zu knüpfen, hat man nur am Anfang einmal eine Einkommens- und Verbrauchsstichprobe bemüht, um diese Verbrauchsgewohnheiten auch tatsächlich zu erkunden. Dann vergingen 15 Jahre, in denen die Sozialhilfe - abgekoppelt vom realen Verbrauch der Menschen und von den tatsächlichen Preissteigerungen - jeweils nur gering erhöht wurde. Und erst im Vorfeld des neuen Regelsatzes für die Sozialhilfe und des Arbeitslosengeldes II, ab Januar 2005, wurde wieder einmal eine Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ausgewertet. Immerhin, mag man sagen. Aber was ein Fortschritt sein könnte, bezeichnet der Geschäftsführer des DPWV, Dr. Ullrich Schneider, harsch als "Irreführung der Öffentlichkeit":
"Es wird so getan, als gehe man statistisch sauber vor, als rechne man relativ objektiv aus, was ein Mensch zum Leben bräuchte. In Wirklichkeit spielen hier Finanzinteressen eine Rolle, es wird außerordentlich manipulativ mit den Statistiken umgegangen, es wird klein gerechnet, es werden Leistungen vorenthalten, in einer Weise, dass sich am Ende vielleicht der Finanzminister freuen kann, aber in der Praxis, in der Familieneltern doch ziemlich verzweifelt sind, weil sie überhaupt nicht mehr wissen, wie bei einer Einschulung beispielsweise überhaupt ein Schulranzen, ein Füller, die Turnschuhe, die man braucht und anderes bezahlt werden soll."
19 Prozent mehr müssten Bezieher von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld bekommen, so der DPWV, wenn man - Zitat - nur "die schlimmsten Manipulationen des Ministeriums" korrigiere. Geschäftsführer Ulrich Schneider:
"Man ist hingegangen und hat sich angeschaut: Was gibt jemand in unteren Einkommensverhältnissen für Schuhe aus? Dieser Betrag war aber wohl dem Verordnungsgeber noch zu hoch, und man hat schlicht eine Kürzung vorgenommen von 10 Prozent und das damit begründet, dass theoretisch bei diesen Ausgaben für Schuhwerk ja auch Maßanfertigungen enthalten sein könnten. Und das war natürlich eine derartig unverschämte Manipulation, weil jeder weiß, dass bei Haushalten, wo ohnehin nur 700 Euro im Monat reinkommen, kein Mensch sich Maßschuhe kauft."
Ähnlich seien auch Kürzungen anderer Ausgabenposten begründet worden, bemängelt der Wohlfahrtsverband. Und die Kosten, die den Haushalten durch die Gesundheitsreform entstanden sind, hätten sich überhaupt nicht in der Regelsatzhöhe niedergeschlagen. Denn die sechs Euro monatlich, die die Ministerialbeamten dafür veranschlagten, sparten sie durch Kürzungen beim ohnehin knappen Posten Nahrungsmittel, Getränke, Tabakwaren, bei Bekleidung und den Freizeitausgaben wieder ein. Die einst so hochgehaltene Orientierung am wirklichen Bedarf der Menschen sei fallengelassen worden, monieren die Kritiker. Das Bundesarbeitsministerium will diesen Einwand nicht gelten lassen. In einer schriftlichen Stellungnahme heißt es:
"Die Regelsätze sind bedarfsdeckend. Die Regelsatzbemessung berücksichtigt Stand und Entwicklung von Nettoeinkommen, Verbraucherverhalten und Lebenshaltungskosten. Grundlage sind die tatsächlichen, statistisch ermittelten Verbrauchsausgaben von Haushalten in unteren Einkommensgruppen. (…) Der Verordnungsgeber ist verpflichtet, die Regelsätze unter Berücksichtigung des gesetzgeberischen Ziels, Führung eines menschenwürdigen Lebens, zu bemessen. Dies ist hier der Fall; die Sozialhilfeempfänger werden so gestellt wie etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung."
Doch es wurden längst nicht alle Haushaltsposten der Befragten berücksichtigt. Ausgaben für Schule und Bildung wurden zum Beispiel ausgeklammert. Der aktuelle Regelsatz beruht außerdem auf der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe von 1998 und wurde lediglich entsprechend der Rentenentwicklung auf das Jahr 2005 hochgerechnet. Der Rentenwert aber ist von der Politik und nicht vom Bedarf abhängig. Auf solche Details der geäußerten Kritik wollte das Bundesarbeitsministerium indes nicht eingehen.
Und die Kritiker fahren noch weitere Geschütze auf: Auch das Individualisierungsprinzip gelte nicht mehr, bemängelt etwa der Bundesverband der Sozialhilfe- und Arbeitsloseninitiativen, seit die einmaligen Leistungen für besondere Anschaffungen durch eine für alle gleiche knappe Pauschale abgegolten werde.
Weil die neue Regelsatzverordnung nach Meinung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes gegen das Gebot der Menschenwürde verstößt, unterstützt der Verband eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. War der Warenkorb letztendlich doch die seriösere Methode zur Ermittlung dessen, was ein Mensch zum würdigen Leben braucht? Ulrich Schneider, der Geschäftsführer des DPWV, ist sich nicht recht schlüssig:
"Der Warenkorb, den wir vor einigen Jahrzehnten hatten, hatte seine Tücken. Man musste über jedes Produkt einzeln streiten. Im Nachhinein müssen wir feststellen, dass durch die Art und Weise, wie insbesondere durch die Bundesregierung dann aber mit dem Statistikmodell umgegangen wurde, hier etwas passiert ist, was wir nicht wollen: Dass nämlich jegliche Diskussion über die Frage, was ein Mensch braucht, um vor Armut geschützt zu sein, plötzlich verstummte, dass man scheinobjektivistisch auf dieses Statistikmodell verwies und der Öffentlichkeit und der Politik suggeriert: Wir haben empirisch-statistisch ja ohnehin alles im Griff, worüber wollt ihr überhaupt noch diskutieren?"
Der DPWV will die Diskussion wieder beleben. Was braucht der Mensch zum würdigen Leben? Nach den ernährungsphysiologischen und haushaltswissenschaftlichen Beiträgen früherer Jahre zu diesem Thema betonen Sozialwissenschaftler wie Christoph Butterwegge heute die hohe Bedeutung des Gefühls, dazuzugehören und gebraucht zu werden. Mehr und mehr wird der gesellschaftliche Ausschluss der Armen thematisiert.
"Armut ist mehr, als wenig Geld zu haben. Armut bedeutet, Nachteile zu haben in verschiedenen Bereichen, im Bereich der Gesundheit, auch Bildungsbenachteiligung zu erfahren, im Konsum, im Freizeitverhalten, im kulturellen Bereich nicht mithalten zu können. Das heißt, neben materiellen Nachteilen, die jemand hat, wird er auch ausgeschlossen von Prozessen, an gesellschaftlichen Entwicklungen teilzunehmen, und das macht - zumindest der Tendenz nach - auch krank."
Anstatt die Arbeitslosen in immer prekärere Beschäftigungsverhältnisse zu drängen, tue die Politik gut daran, die Folgen von Arbeitslosigkeit und sozialer Not so weit zu lindern, dass keine Verelendungskreisläufe entstünden und die Menschen in der Lage blieben, sich politisch und kulturell zu betätigen, meint der Kölner Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge.
"Dazu gehört eigentlich auch die Möglichkeit, den Kopf frei zu haben für bestimmte gesellschaftliche Prozesse. Wenn man sich an denen beteiligen will, dann muss im Grunde der Zwang weg sein, daran denken zu müssen nur, wie man das nächste Essen sich beschafft und wie man soeben über die Runden kommt und insofern glaube ich, dass eigentlich eine soziale Grundsicherung nötig ist, die weit über dem Sozialhilfesatz und dem, was heute ALG II genannt wird, liegen müsste."
Die Antwort auf die Frage, was man denn braucht zum würdigen Leben, hängt indes - so scheint es - längst nicht mehr von wissenschaftlichen Erkenntnissen ab, sondern mehr und mehr von politischen Kräfteverhältnissen. Eine großzügige Grundsicherung steht da zur Zeit wohl nicht auf der politischen Agenda. Dafür darf man gespannt sein, wie die Fachleute des Arbeitsministeriums mit der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe von 2003 umgehen, die zur Zeit ausgewertet wird.
Regine Solms, 40 Jahre alt, gelernte Kauffrau für Groß- und Außenhandel, wurde im Jahre 2002 arbeitslos, als ihr Arbeitgeber Insolvenz anmeldete. Nun bekommt sie Arbeitslosengeld II. Ein Sohn ist schon aus dem Haus, ein anderer leistet gerade seinen Zivildienst ab. Für den Lebensunterhalt von Regine Solms und ihrer Tochter, die noch zur Schule geht, zahlt das Sozialamt monatlich 662 Euro - ein Betrag, der gerade für das Allernötigste reicht und gelegentlich nicht mal dafür.
"Also, für Unternehmungen, dass ich und die Kinder ordentlich gekleidet sind, müssten es schon 500 bis 800 Euro im Monat mehr sein, sonst kann man das nicht bestreiten. Oder jetzt auch eine Anschaffung wie eine Waschmaschine, kann man sonst nicht, geht nicht, man kann auch nichts zurücklegen. Ich hab es ja immer wieder versucht, mir auch etwas von dem Geld zurückzulegen, aber es ist einfach nicht machbar, weil, dann kommen immer andere Dinge dazwischen, die bezahlt werden müssen. Und das ist auch für mich sehr, sehr wichtig, dass meine Kinder nicht in allem nachstehen müssen. Sie sind zwar sehr genügsam, aber irgendwo möchten sie doch mit dabei gehören."
345 Euro bekommt heute ein allein lebender Arbeitslosengeld-II- oder Sozialhilfe-Empfänger zum Lebensunterhalt, Kinder unter 14 Jahren oder ältere Angehörige, die mit in der Bedarfsgemeinschaft leben, erhalten 60 beziehungsweise 80 Prozent dieses Satzes. Sozialverbände und Wissenschaftler kritisieren den Regelsatz als unzureichend.
Was aber ist angemessen? Die Frage, wie viel man denjenigen Mitgliedern der staatlichen Gemeinschaft zubilligen sollte, die nicht für sich selber sorgen können, ist alt. Mit wissenschaftlicher Begründung und verbindlich für das ganze Bundesgebiet hat der Gesetzgeber sie zum allerersten Mal vor 50 Jahren zu beantworten versucht. 1955 entwickelte der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge den so genannten Warenkorb. Er sollte die Willkür beenden, die noch Anfang der 50er Jahre bei der Bemessung der Fürsorgerichtsätze herrschte. Damals wurde das Existenzminimum in einem Bundesland in Anlehnung an die Löhne ungelernter Arbeiter ermittelt, in einem anderen ging man nach den örtlichen Erfahrungen der Fürsorgepraxis, und in einem dritten Land versuchte man, mit praktischen Kochversuchen zu ermitteln, wie viel ein Armer wohl brauche. Walter Schellhorn, Anfang der 50er Jahre schon in der Fürsorge tätig und später jahrelang Geschäftsführer des Deutschen Vereins für öffentliche und soziale Fürsorge, schätzt den Warenkorb denn auch als sozialpolitische Errungenschaft erster Güte ein:
"Insgesamt war das Gefälle in der Bundesrepublik unvertretbar hoch. Nach meiner Erinnerung war der Unterschied über ein Drittel in der Höhe des Fürsorgerichtsatzes, und das ist natürlich schon ein gewaltiger Wert bei diesen Existenzmitteln. Und es war ein großer Fortschritt natürlich einmal, nun zu bündeln und zu sagen: Wir müssen da mehr objektive Grundlagen hereinbringen, wir müssen sehen, dass wir mehr Fachleute aus den einzelnen Bereichen der Ämter heranbringen, Fachleute: Ernährungswissenschaftler, Haushaltswissenschaftler, Statistiker, die versuchen, uns Mittel zu geben, Hilfsmittel dafür, um den Verbrauch und Bedarf besser zu definieren."
Kernseife, Konsumware 1 Stück = 200 g
Preis je Einheit: 27 Pfennig
Menge: 0,5
Aufwand: 14 Pfennig
Ersatzstoff für Wäscheausbesserung, Linon, 80 Zentimeter breit, 1 Meter
Preis je Einheit: 1,58 DM
Menge: 0,167
Aufwand: 26 Pfennig
Briefporto im Fernverkehr, 1 Brief
Preis je Einheit: 22 Pfennig
Menge: 1
Aufwand: 22 Pfennig
10.000 Gramm Mischbrot
15.000 Gramm Kartoffeln
3 Eier
10.200 Gramm Vollmilch
360 Gramm Schweineschmalz
240 Gramm Erbsen
Auf die Erbse genau errechnete ein Ernährungsphysiologe vom Max-Planck-Institut, was ein männlicher oder weiblicher so-und-so-alter Mensch für eine vollwertige Ernährung brauchte, und wie man diesen Bedarf mit bescheidenen Mitteln decken könnte. Kalorien, Eiweiß, Kohlehydrate und Fett waren jeweils genau ausgewiesen. Haushaltswissenschaftler ermittelten, was zur Haushaltsführung sonst noch notwendig sei. Zum ersten Male in der Geschichte der Fürsorgerichtsätze wurden aber auch soziale Bedürfnisse der Hilfeempfänger berücksichtigt, zum Beispiel Beiträge in Vereinigungen oder die Fahrtkosten zur Grabstätte von Angehörigen. Und neben diesen für alle geltenden Posten konnten die Sachbearbeiter der Fürsorgestellen weiterhin im Einzelfall und bei besonderem Bedarf höhere Zuwendungen genehmigen.
Walter Schellhorn betont, dass es dem Gesetzgeber schon damals nicht nur um das reine Überleben der Fürsorgeempfänger ging:
"Man weiß, wenn man aus meiner Generation kommt, die den Krieg gemacht hat und bald vier Jahre in Kriegsgefangenschaft war, mit was man eigentlich als Mensch leben kann. Mit was für wenig. Das ist aber nicht das entscheidende Kriterium, war es nie in der Fürsorge - und noch weniger in der Sozialhilfe. Sondern es muss ja über das reine, das nackte Existenzminimum hinaus auch die Würde des Menschen gewahrt werden. Das heißt, er muss in seiner Umgebung leben können, dass er nicht von vornherein in der Höhe seiner Leistung und seinem Verhalten abfällt gegenüber anderen vergleichbaren Bevölkerungsteilen."
Im Bundessozialhilfegesetz von 1961 wurde der Bezug zur grundgesetzlich verbrieften Menschenwürde erstmals ausdrücklich hergestellt. Und das, was als menschenwürdiges Leben angesehen wurde, entwickelte sich mit steigendem Wohlstand stetig weiter. Der Warenkorb von 1962 enthielt bereits mehr Gemüse und Obst, mehr Fleisch und Eier, und dafür weniger Kartoffeln als der von 1955. Erstmals wurde dem Hilfeempfänger auch ein Kinobesuch zugestanden. 1970 fanden sich mehr und teurere Sorten Fleisch im Warenkorb, mehr und feinere Gemüsesorten, Käse, Obstkonserven, Südfrüchte, Feingebäck, Süßwaren und dafür weniger Mehl, Nährmittel und Hülsenfrüchte. Auch den Frauen wurde nun ein kleines Quantum Tabak zubemessen. Weil inzwischen viele Haushalte über einen Fernsehapparat verfügten, hatte man die Kinokarte allerdings halbiert, was in der Folge noch häufig für Spott und harsche Kritik sorgen sollte. Überhaupt mehrten sich kritische Stimmen, die trotz aller Verbesserungen im Detail die Höhe der Sozialhilfesätze für unzureichend befanden.
Tatsächlich war das ermittelte Existenzminimum trotz aller Expertise sehr bescheiden. Die Fachleute des Deutschen Vereins blieben mit ihren Berechnungen stets unter dem, was ein gering verdienender Haushalt für seinen laufenden Unterhalt ausgab, vor allem im Bereich der "persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens". Das gebot übrigens schon die Bestimmung des einzuhaltenden Abstands zum Lohn. Vorschläge, sich den aufwändig errechneten Warenkorb deshalb zu schenken und gleich an die Einkommen der Geringverdiener anzudocken, wurden vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge aber abschlägig beschieden.
Die Fachleute des Deutschen Vereins bestanden darauf, weiterhin akribisch zu ermitteln, was ein Mensch ihrer Ansicht nach zu einem würdevollen Leben benötigte. Sollte das in Ausnahmefällen mal mehr sein, als die unteren Lohngruppen verdienten, was bei großen Haushalten mit mehreren Kindern vorkam, wollte man sich an diesem Bedarf und nicht am Lohnabstandsgebot orientieren. Besonders alleinstehende Rentnerinnen fristeten Ende der 70er Jahre allerdings ein ziemlich kümmerliches Leben, wie es auch diese alte Frau 1978 einer Journalistin schilderte:
"Im Januar hat mir jemand gesagt, ich soll hingehen aufs Sozialamt und soll mir holen... Mir steht außer Diätkosten noch alles Mögliche zu, auch etwas Wäsche und Schuhe, und was ich brauche. Da bin ich im Januar aus Verzweiflung hingegangen. Und ich habe mir lassen ein Paar Schuhe bescheinigen, die ich leider nicht kaufen konnte, weil ich nichts zum Leben hatte. Ich habe mir lassen einen Morgenrock bescheinigen, konnte ich mir aber nicht kaufen. Ich hab bekommen 200 und noch was. Ich hab alles schriftlich, kann alles nachgesehen werden. Aber Sie glauben nicht, wie bitter das Leben ist."
Als der Deutsche Verein 1980 in der Frankfurter Paulskirche sein 100-jähriges Bestehen feierte, standen draußen Demonstranten und forderten, dem Verein seine Aufgabe zu entziehen und direkt die Politik mit der Festsetzung der Regelsätze zu beauftragen. Walter Schellhorn, damals Geschäftsführer des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, erinnert sich:
"Es ist registriert worden, auch von den anwesenden Politikern, dass Hilfeempfänger und ihre Vertretungen mit dem, was sie erhalten, nicht zufrieden sind und dass sie bezweifeln, ob die Berechnung richtig ist. Sie wollten die Berechnung mehr in die öffentliche Verantwortung lagern. Nun kann man natürlich - das ist etwas boshaft - sagen: Sie haben besser dagestanden und sind besser gefahren, als es aus der öffentlichen Verantwortung des Bundes herausgenommen worden ist. In dem Zeitraum. Denn die Berechnungen des Deutschen Vereins, die auf Sachverständigengutachten beruhen, hätten ihnen mehr gebracht als das, was später dann herausgekommen ist über die Steuerung durch die Bundesministerien und die Länder."
25 Jahre nach der Veranstaltung in der Paulskirche, im November 2005, tagt der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) in Wuppertal zum Thema soziale Kälte. Dass heute das "soziokulturelle Existenzminimum" von einem Bundesministerium definiert wird, hat den Sozialhilfebeziehern tatsächlich nichts gebracht. Im Gegenteil: Die in Wuppertal versammelten Vereine, Initiativen und Verbände haben Fakten über die schlechteren Bildungschancen und die angegriffene Gesundheit von Kindern sozial schwacher Familien zusammentragen.
Die Kaufkraft der Sozialhilfebezieher hat im Vergleich zu früheren Jahren sogar noch abgenommen. Denn obwohl man sich Ende der 80er Jahre entschieden hatte, die Höhe der Sozialhilfe künftig an die Verbrauchsgewohnheiten der unteren Einkommensschichten zu knüpfen, hat man nur am Anfang einmal eine Einkommens- und Verbrauchsstichprobe bemüht, um diese Verbrauchsgewohnheiten auch tatsächlich zu erkunden. Dann vergingen 15 Jahre, in denen die Sozialhilfe - abgekoppelt vom realen Verbrauch der Menschen und von den tatsächlichen Preissteigerungen - jeweils nur gering erhöht wurde. Und erst im Vorfeld des neuen Regelsatzes für die Sozialhilfe und des Arbeitslosengeldes II, ab Januar 2005, wurde wieder einmal eine Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ausgewertet. Immerhin, mag man sagen. Aber was ein Fortschritt sein könnte, bezeichnet der Geschäftsführer des DPWV, Dr. Ullrich Schneider, harsch als "Irreführung der Öffentlichkeit":
"Es wird so getan, als gehe man statistisch sauber vor, als rechne man relativ objektiv aus, was ein Mensch zum Leben bräuchte. In Wirklichkeit spielen hier Finanzinteressen eine Rolle, es wird außerordentlich manipulativ mit den Statistiken umgegangen, es wird klein gerechnet, es werden Leistungen vorenthalten, in einer Weise, dass sich am Ende vielleicht der Finanzminister freuen kann, aber in der Praxis, in der Familieneltern doch ziemlich verzweifelt sind, weil sie überhaupt nicht mehr wissen, wie bei einer Einschulung beispielsweise überhaupt ein Schulranzen, ein Füller, die Turnschuhe, die man braucht und anderes bezahlt werden soll."
19 Prozent mehr müssten Bezieher von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld bekommen, so der DPWV, wenn man - Zitat - nur "die schlimmsten Manipulationen des Ministeriums" korrigiere. Geschäftsführer Ulrich Schneider:
"Man ist hingegangen und hat sich angeschaut: Was gibt jemand in unteren Einkommensverhältnissen für Schuhe aus? Dieser Betrag war aber wohl dem Verordnungsgeber noch zu hoch, und man hat schlicht eine Kürzung vorgenommen von 10 Prozent und das damit begründet, dass theoretisch bei diesen Ausgaben für Schuhwerk ja auch Maßanfertigungen enthalten sein könnten. Und das war natürlich eine derartig unverschämte Manipulation, weil jeder weiß, dass bei Haushalten, wo ohnehin nur 700 Euro im Monat reinkommen, kein Mensch sich Maßschuhe kauft."
Ähnlich seien auch Kürzungen anderer Ausgabenposten begründet worden, bemängelt der Wohlfahrtsverband. Und die Kosten, die den Haushalten durch die Gesundheitsreform entstanden sind, hätten sich überhaupt nicht in der Regelsatzhöhe niedergeschlagen. Denn die sechs Euro monatlich, die die Ministerialbeamten dafür veranschlagten, sparten sie durch Kürzungen beim ohnehin knappen Posten Nahrungsmittel, Getränke, Tabakwaren, bei Bekleidung und den Freizeitausgaben wieder ein. Die einst so hochgehaltene Orientierung am wirklichen Bedarf der Menschen sei fallengelassen worden, monieren die Kritiker. Das Bundesarbeitsministerium will diesen Einwand nicht gelten lassen. In einer schriftlichen Stellungnahme heißt es:
"Die Regelsätze sind bedarfsdeckend. Die Regelsatzbemessung berücksichtigt Stand und Entwicklung von Nettoeinkommen, Verbraucherverhalten und Lebenshaltungskosten. Grundlage sind die tatsächlichen, statistisch ermittelten Verbrauchsausgaben von Haushalten in unteren Einkommensgruppen. (…) Der Verordnungsgeber ist verpflichtet, die Regelsätze unter Berücksichtigung des gesetzgeberischen Ziels, Führung eines menschenwürdigen Lebens, zu bemessen. Dies ist hier der Fall; die Sozialhilfeempfänger werden so gestellt wie etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung."
Doch es wurden längst nicht alle Haushaltsposten der Befragten berücksichtigt. Ausgaben für Schule und Bildung wurden zum Beispiel ausgeklammert. Der aktuelle Regelsatz beruht außerdem auf der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe von 1998 und wurde lediglich entsprechend der Rentenentwicklung auf das Jahr 2005 hochgerechnet. Der Rentenwert aber ist von der Politik und nicht vom Bedarf abhängig. Auf solche Details der geäußerten Kritik wollte das Bundesarbeitsministerium indes nicht eingehen.
Und die Kritiker fahren noch weitere Geschütze auf: Auch das Individualisierungsprinzip gelte nicht mehr, bemängelt etwa der Bundesverband der Sozialhilfe- und Arbeitsloseninitiativen, seit die einmaligen Leistungen für besondere Anschaffungen durch eine für alle gleiche knappe Pauschale abgegolten werde.
Weil die neue Regelsatzverordnung nach Meinung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes gegen das Gebot der Menschenwürde verstößt, unterstützt der Verband eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. War der Warenkorb letztendlich doch die seriösere Methode zur Ermittlung dessen, was ein Mensch zum würdigen Leben braucht? Ulrich Schneider, der Geschäftsführer des DPWV, ist sich nicht recht schlüssig:
"Der Warenkorb, den wir vor einigen Jahrzehnten hatten, hatte seine Tücken. Man musste über jedes Produkt einzeln streiten. Im Nachhinein müssen wir feststellen, dass durch die Art und Weise, wie insbesondere durch die Bundesregierung dann aber mit dem Statistikmodell umgegangen wurde, hier etwas passiert ist, was wir nicht wollen: Dass nämlich jegliche Diskussion über die Frage, was ein Mensch braucht, um vor Armut geschützt zu sein, plötzlich verstummte, dass man scheinobjektivistisch auf dieses Statistikmodell verwies und der Öffentlichkeit und der Politik suggeriert: Wir haben empirisch-statistisch ja ohnehin alles im Griff, worüber wollt ihr überhaupt noch diskutieren?"
Der DPWV will die Diskussion wieder beleben. Was braucht der Mensch zum würdigen Leben? Nach den ernährungsphysiologischen und haushaltswissenschaftlichen Beiträgen früherer Jahre zu diesem Thema betonen Sozialwissenschaftler wie Christoph Butterwegge heute die hohe Bedeutung des Gefühls, dazuzugehören und gebraucht zu werden. Mehr und mehr wird der gesellschaftliche Ausschluss der Armen thematisiert.
"Armut ist mehr, als wenig Geld zu haben. Armut bedeutet, Nachteile zu haben in verschiedenen Bereichen, im Bereich der Gesundheit, auch Bildungsbenachteiligung zu erfahren, im Konsum, im Freizeitverhalten, im kulturellen Bereich nicht mithalten zu können. Das heißt, neben materiellen Nachteilen, die jemand hat, wird er auch ausgeschlossen von Prozessen, an gesellschaftlichen Entwicklungen teilzunehmen, und das macht - zumindest der Tendenz nach - auch krank."
Anstatt die Arbeitslosen in immer prekärere Beschäftigungsverhältnisse zu drängen, tue die Politik gut daran, die Folgen von Arbeitslosigkeit und sozialer Not so weit zu lindern, dass keine Verelendungskreisläufe entstünden und die Menschen in der Lage blieben, sich politisch und kulturell zu betätigen, meint der Kölner Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge.
"Dazu gehört eigentlich auch die Möglichkeit, den Kopf frei zu haben für bestimmte gesellschaftliche Prozesse. Wenn man sich an denen beteiligen will, dann muss im Grunde der Zwang weg sein, daran denken zu müssen nur, wie man das nächste Essen sich beschafft und wie man soeben über die Runden kommt und insofern glaube ich, dass eigentlich eine soziale Grundsicherung nötig ist, die weit über dem Sozialhilfesatz und dem, was heute ALG II genannt wird, liegen müsste."
Die Antwort auf die Frage, was man denn braucht zum würdigen Leben, hängt indes - so scheint es - längst nicht mehr von wissenschaftlichen Erkenntnissen ab, sondern mehr und mehr von politischen Kräfteverhältnissen. Eine großzügige Grundsicherung steht da zur Zeit wohl nicht auf der politischen Agenda. Dafür darf man gespannt sein, wie die Fachleute des Arbeitsministeriums mit der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe von 2003 umgehen, die zur Zeit ausgewertet wird.