Wenn ich morgens um kurz vor sieben die Fensterläden meiner Unterkunft in Cannes öffne, blicke ich der Mittelmeersonne direkt ins strahlende Gesicht. Wie ein Scheinwerfer ist sie um diese Zeit auf mein Fenster gerichtet. Doch nur eine gute Stunde, ein Frühstück und einen kurzen Fußmarsch später wird das Licht schon wieder ausgeknipst: Dabei hatte mein Körper doch gerade erst vom Nacht- in den Tagesmodus gefunden.
"The screening is about to begin" - so kündigt eine wohlklingende Frauenstimme den Filmstart im großen Saal des Festivalpalastes an. Er ist als "Salle Lumière" den berühmten "Licht-Brüdern" gewidmet, den Erfindern des Kinos: Louis-Jean und Auguste Lumière.
An diesem Morgen steht der neue Film der japanischen Regisseurin Naomi Kawase auf dem Programm. Im Original heißt er "Hikari" - "Licht". Das internationale Publikum wird ihn unter dem Titel "Radiance" kennenlernen können - "Helligkeit". Doch der Protagonist lebt in zunehmender Dunkelheit: Masaya ist Fotograf und verliert sein Augenlicht.
Bloß ein kleiner Ausschnitt des Gesichtsfeldes ist ihm noch geblieben, und das auch nur, wenn er seinen Kopf nach unten neigt. Die Aufgabe der Protagonistin Misako ist es, sehbehinderten Menschen den Kinobesuch möglich zu machen. Als Autorin von Audiodeskriptionen beschreibt sie, was auf der Leinwand vor sich geht.
Es gehe in ihren Filmen immer um Licht, erläutert Naomi Kawase in der anschließenden Pressekonferenz. Wir scheinen die Existenz von Licht zu vergessen, so ihre Beobachtung. Wie ein zusätzlicher Kommentar wirkt da der Auftritt ihrer Filmcrew: Als hätten sie sich abgesprochen, sitzen die Schauspieler in Schwarz und Weiß gekleidet auf dem Podium.
Zurück aus dem tageslichtlosen Konferenzraum, steht auch schon die Mittagssonne am Himmel von Cannes, begleitet nur von ein paar Schleierwolken. Doch an diesem Dienstag liegen die traurigen Nachrichten aus Manchester wie ein Schatten über der Festivalstadt. Um 15 Uhr gedenkt die internationale Filmgemeinde der Opfer des Anschlags, mit einer Schweigeminute.