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Praga früher, Praga heute

Regisseure lieben die marode Optik von Praga – doch der Alltag vieler Bewohner ist mitnichten filmreif. Das Warschauer Viertel hat eine wechselvolle Zeit hinter sich. Das schweißt die Menschen zusammen.

Von Adalbert Siniawski | 01.04.2013
    "Polański ist in meiner Straße von Tür zu Tür gelaufen. Ich habe ihn dabei fotografiert. Er wirkte so natürlich, er hat den Dreh die ganze Zeit beaufsichtigt. Vor meiner Haustür wurde die Gettomauer nachgebaut. Bei einer Szene wussten die Statisten nicht, wie sie mit den Spitzhacken umgehen sollen. Dann ist er auf die Leiter gesprungen und hat denen gezeigt, wie man das richtig macht. Das war unglaublich!"

    Während er diese Geschichte erzählt, freut er sich, als ob es gestern gewesen wäre. Dabei hat er mit seinen 90 Jahren schon vieles auf Praga miterlebt. Paweł Elsztein wurde hier geboren. Vor 30 Jahren hat sich der pensionierte Luftfahrtredakteur der Geschichte seines Viertels verschrieben. Davon zeugen mehrere Bücher, Dutzende Zeitungsartikel und 20 Fotoausstellungen.

    "Diebstähle und Einbrüche, die hier passieren, werden durch die Schmuddelpresse aufgebauscht. Und alle denken: typisch Praga! Ich sage den Leuten dann: Das gibt es auch in New York, Berlin, Paris oder Moskau. In Großstädten wohnen halt keine Engel, sondern Menschen."

    Die Zahlen geben ihm recht: In der Kriminalitätsstatistik schneidet so mancher Stadtteil auf der vermeintlich "besseren Seite" deutlich schlechter ab. Nimmermüde arbeitet Elsztein daran, Pragas Negativimage zu revidieren. Die Stadt ehrte ihn dafür mehrfach mit Medaillen. Der Name des Stadtteils stammt ab von dem Wort "prażyć", erklärt er – übersetzt heißt das so viel wie rösten oder brennen.

    Verbrannte Erde wurde hier oft hinterlassen. Das Terrain war anfangs Eigentum der lokalen Geistlichen. 1648 erhielt Praga die Stadtrechte. Wenige Jahre später: blutiger Überfall der Schweden. 1794 Schlacht mit der russischen Armee. 1831 die zweite Schlacht um Praga. Danach wurde Polen russifiziert – noch heute finden sich an den alten Häusern Werbesprüche in beiden Sprachen. Und 1939 kamen bekanntlich die Deutschen.

    "Praga hatte nie das Glück, viele Jahre in Frieden zu leben. Ständig fiel jemand ein: Schweden, Russen, Deutsche. Es gab Kriege, Aufstände, große Feuer wüteten hier, eine Cholera-Epidemie brach aus. Alle möglichen Katastrophen ereilten das arme Praga."

    Während draußen der Krieg tobte, verschanzten sich die Menschen in ihren Häusern und klammerten sich an den Glauben. Davon zeugen selbst gezimmerte und oftmals künstlerisch geschmückte Marienkapellen. Sie spenden Farbe und Licht in den dunklen, grauen Hinterhöfen. Etwa 600 dieser Reliquien gibt es noch, sie sind charakteristisch für das hiesige Straßenbild.

    "Die Hauseigentümer haben sie aufgestellt. Auf einigen sind kleine Schilder angebracht: "Als Dank für den Schutz im Bombenhagel". Während der deutschen Okkupation, als die Soldaten die Ausgangssperre ausriefen, als die Tore geschlossen wurden und man nicht mehr in die Kirche gehen konnte, beteten die Anwohner vor diesen kleinen Kapellen im Hof. Das war sehr wichtig, das hat ihnen Mut gegeben. "Wir werden überleben!""

    Heute kämpfen die Bewohner mit sozialen Problemen. Auch das hat historische Gründe. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde nur in den Aufbau der restlos zerstörten Westseite Warschaus investiert. Auf Praga haben drei Viertel der Häuser den Krieg überstanden, so gab es wenig Anlass, sich dem Osten zu widmen. Später, im Kommunismus, passten die alten Häuser nicht zur Idee des Neuen Menschen. Praga sollte verfallen, stattdessen waren Plattenbausiedlungen angedacht. Es blieb bei den Plänen. Und heutzutage ist Warschau so hoch verschuldet, dass Mittel für die Restaurierung fehlen. Denn die Hälfte der Wohnungen ist in städtischer Hand.

    "Ich erzähle ihnen das am Beispiel meiner Wohnung: Das Haus ist 100 Jahre alt, ich wohne im 4. Stock und es gibt keinen Aufzug. Es gibt kein warmes Wasser. Es gibt kein Badezimmer. Und wenn wir Anwohner so etwas Elementares wie ein Haustelefon anbringen wollten, gebe es dafür vom Denkmalschützer keine Erlaubnis – das ist doch absurd!"

    40 Prozent der Wohnungen haben kein eigenes Bad; jede vierte nicht mal ein eigenes WC. Dazu die soziale Not: Knapp die Hälfte der Sozialhilfeausgaben fließen nach Praga. Jedes vierte Kind bleibt dem Kindergarten fern – in Polen sehr ungewöhnlich. Es gibt Kinder, die haben die bessere Hälfte Warschaus noch nie gesehen.

    Im neuen Nationalstadion auf Praga wird der Fußballrasen für umgerechnet 200.000 Euro ausgewechselt. Damit könnte man 100 ruinierte Hinterhöfe auf Vordermann bringen.
    Derweil nehmen die Bewohner die Sache selbst in die Hand: Mit Geld- und Sachspenden entrümpeln sie die Hinterhöfe, errichten Kinderschaukeln und eröffnen eine Nachbarschaftsbibliothek.

    Das ist es, was Elsztein an Praga schätzt: dass sich die Leute gegenseitig helfen und dass es hier familiärer zugeht als anderswo. "Wir können uns mit etwas rühmen. Ich liebe dieses Viertel", sagt er zur Verabschiedung.

    "Jest czymś się pochwalić. No poprostu kocham tą dzielnicę."

    Ein Bildband von Anna Beata Bohdziewicz und Magdalena Stopa zeigt die Vielfalt der Warschauer Marienkapellen in den Hinterhöfen – es ist auch in englischer Sprache erhältlich:Bildband Warschauer Marienkapellen
    Pawel Elzstein (90), Einwohner des Warschauer Viertels Praga
    Pawel Elzstein (90) ist in Praga geboren (Adalbert Siniawski)