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Resignation am Ursprungsort der tunesischen Revolution

Vor einem Jahr nahmen die Proteste in der tunesischen Stadt Sidi Bouzid ihren Anfang. Doch von der Demokratiebegeisterung ist nicht mehr viel zu spüren. Arbeitslosigkeit und Resignation bestimmen den Alltag - ein Nährboden, den sich radikale Kräfte zunutze machen wollen.

Von Jan Kuhlmann | 17.12.2011
    Der Stadtkern von Sidi Bouzid, einem unscheinbaren Ort dreieinhalb Autostunden von der Hauptstadt Tunis entfernt. Wie jeden Tag schieben sich Autos und Motorräder über die einzige Hauptstraße. Kaum jemand beachtet das Zelt vor dem Gebäude der Bezirksverwaltung: Drei junge Männer liegen darin auf Matratzen. Sie sehen müde aus, erschöpft, ihre Wangen sind eingefallen. Um nicht zu frieren, haben sie sich Wolldecken bis unters Kinn gezogen. Seit einem Monat befinden sich die drei in einem Hungerstreik – aus Protest gegen ihre Arbeitslosigkeit:

    "Wir fordern Arbeit. Wir haben alle drei studiert: Geschichte, Philosophie, Ingenieurswesen. Wir nehmen jede Arbeit an, jede. Wahrscheinlich war die Lage unter dem Diktator Ben Ali besser. Da gab es wenigsten jemanden, der verantwortlich ist. Heute kümmert sich niemand mehr."

    Sidi Bouzid ist eine arme Stadt – in der Mitte Tunesiens, aber doch weit weg von den Wirtschaftszentren des Landes. Es gibt nur wenige Fabriken, Landwirtschaft prägt die Gegend, es herrscht eine hohe Arbeitslosigkeit, vor allem unter den Jüngeren. Doch so trostlos der Ort auch wirken mag: Er hat sich einen Platz in den Geschichtsbüchern errungen. Genau dort, wo die drei Männer heute im Zelt liegen, zündete sich vor einem Jahr der junge Gemüsehändler Mohammed Bouazizi aus Protest selbst an. Die Polizei hatte ihn immer wieder gegängelt und geschlagen, ohne dafür bestraft zu werden. Danach brachen in Sidi Bouzid Proteste aus, die schließlich die ganze arabische Welt erfassten – hier begann die arabische Revolution. Verändert hat sich seitdem wenig – ein Jahr nach Ausbruch des Aufstands sind viele Menschen ernüchtert.

    Enttäuscht ist auch der 31 Jahre alte Bilel, der mit Freunden in einem Café sitzt. Die Luft ist dick vom Rauch der Zigaretten und Wasserpfeifen. In dieser Woche hat Tunesien seinen ersten frei gewählten Präsidenten bekommen – doch von der Politik erwartet Bilel wenig.

    "Wir haben jegliches Vertrauen in die Regierung verloren. Jeden Tag hören wir leeres Gerede und falsche Versprechen. Wann will die Regierung etwas ändern? In fünf Jahren? In sieben Jahren? Wir warten jetzt seit einem Jahr. Wir können vielleicht noch ein weiteres halbes Jahr warten. Aber länger nicht mehr."

    Auch der arbeitslose Zied, ein Freund Bilels, ist frustriert:

    "Es gibt in Sidi Bouzid und Tunesien keinen jungen Mann, der nicht ans Auswandern denkt. Vor allem wenn du einen Verwandten oder einen Freund siehst, der ins Ausland gegangen ist und dann mit einem riesigen Auto oder Geld zurückkommt. Dann fragst du dich selbst: Warum gehe ich nicht auch ins Ausland und bringe dasselbe mit?"

    Zied hat bei der Parlamentswahl im Oktober für die Ennahda-Partei gestimmt. Die Islamisten gewannen landesweit die meisten Sitze. Fast zwei Monate dauerte es, bis die Abgeordneten eine vorläufige Verfassung verabschiedeten. Jetzt stellt die Ennahda den Ministerpräsidenten. Zied aber ist von der Partei enttäuscht. Er werde die Islamisten nicht wieder wählen, sagt er. Er werde überhaupt nie mehr zu Wahl gehen.

    Die lokale Zentrale der Ennahda-Partei ist in einer Seitenstraße Sidi Bouzids zu finden. In einem Büro im ersten Stock des Gebäudes läuft auf einem Bildschirm die Live-Übertragung der Parlamentsdebatte. Zwei Etagen höher haben sich Parteimitglieder zu einer Sitzung getroffen. Mit dabei ist Fauzi Abdouli, Mitglied des Vorstands, ein 53-Jähriger mit Drei-Tage-Bart. Zehn Jahre lang saß Abdouli unter dem tunesischen Diktator Ben Ali in Haft. Er kennt die schlechte Stimmung der Menschen in Sidi Bouzid:

    "Einige Leute verstehen nicht, dass es bei den Wahlen erst einmal darum ging, eine Verfassung zu schreiben. Die Leute haben erwartet, dass die Ennahda sofort nach den Wahlen die Regierung bildet und die Arbeit aufnimmt. Aber das war nicht möglich, weil wir erst einmal die gesetzlichen Grundlagen schaffen mussten."

    Konkurrenz bekommt die Ennahda in Sidi Bouzid nicht nur von säkularen Kräften, sondern auch von radikal-islamischen wie der Hizb ut-Tahrir. Zur Wahl war die Partei zwar nicht zugelassen, dennoch zeigt sie sich gut organisiert – so wie am vergangenen Sonntag. Da hat die Partei ihre Anhänger zu einer Versammlung geladen.

    Linktipp:


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