Was für eine Mähne! Verzweifelt versucht Ruth Marten, ihre graue Krause mit einer Spange zu bändigen. Immer wieder schiebt sie ein paar widerspenstige Strähnen an ihren Platz zurück. Diese Lockenpracht ist für Ruth Marten Schicksal und Fügung zugleich. Denn Haare haben die heute 69-Jährige zur Künstlerin gemacht.
"Nun, ich habe lustiges Haar, es ist sehr lockig. Ich wuchs in den 60er Jahren auf, als jeder seine Haare glättete. Haare waren damals ein Hinweis auf gesellschaftliche Zugehörigkeit. In meinen Zeichnungen von Menschen habe ich immer damit gespielt. Und dann sagte ich an einem bestimmten Punkt: Vergiss die Leute, und ich interessierte mich nur noch für die Darstellung von Haaren. Ich habe etwa 17 Jahre lang in dieser Richtung gearbeitet."
Kampfansagen an Geschlechterklischees
Pomadige Strähnen führen ein Eigenleben auf Männerglatzen. Blonde Zöpfe wachsen aus Möbelstücken oder schauen unter Miniröcken hervor. Perücken stapeln sich zu absurden Turmfrisuren à la Marie Antoinette. Das sind nur einige Motive von Ruth Marten, die jetzt im Max Ernst Museum zu sehen sind. Diese verdrehten Aquarelle und Zeichnungen von Haaren sind Kampfansagen an Geschlechterklischees und überkommene Konventionen. Ruth Marten interessierte sich aber nicht nur für Haare, sondern auch für die menschliche Haut - und das im buchstäblichen Sinne. In den 70ern arbeitete sie in einem Tattoo-Studio in New York. Damals alles andere als ein Job für eine Frau.
"Es war das Jahrzehnt der Schwulenbefreiung, noch vor der Entdeckung von AIDS. Es war die beste Zeit für ein Coming Out. Oft wurde das mit einer Tätowierung gefeiert. Es war großartig, als Tätowierer zu arbeiten, doch es war illegal. Meist war die Polizei aber anderswo beschäftigt, denn New York war in den 70er Jahren eine Stadt voller Schmutz und Kriminalität."
Von der Tätowiererin zur Illustratorin
1980 hörte sie auf, wegen der Aidskrise. Und startete die nächste Karriere - als Illustratorin. Marten arbeitete für große Magazine. Die Zeit der Haarobsession war damals für sie vorbei. Stattdessen begann sie auf Flohmärkten, historische Atlanten, zoologische Lexika oder Modedrucke aus dem 18. Jahrhundert zu kaufen. Und bearbeitete sie mit einer eigenwilligen Collagetechnik.
"Ich bin schon immer gerne auf Flohmärkte gegangen. Dort entdeckte ich auch einen Bereich mit Kartentischen, auf denen alte Drucke lagen, zufällig hatte sie gerade einer der Händler, der gar nicht wusste, was er verkaufte, durcheinandergeworfen. Ich kaufte sie ihm für wenig Geld ab. Ich wollte unbedingt wissen, wie dieses Papier auf Tusche und Pinsel reagiert. Und natürlich war es perfekt."
Mischung aus Traum und Fantasiewelt
Ruth Marten griff zu Stift und Pinsel und verfremdete die Flohmarktfunde: Vögel tragen Käfige wie Modekleider, Mäuse verwanden sich in appetitliche Canapés, Krokodile haben Négligés an. Der Mensch wird zum Tier und das Tier wird zum Mensch. Martens surreale Eingriffe ahmen so subtil die Vorlagen nach, dass sie selber wie historische Originale aussehen. "Kollaboration" nennt Marten diese Form des Zusammenwachsens von Alt und Neu - und schmunzelt dabei.
"Wissen Sie, die Vorlagen hatten schlicht keine andere Wahl. Also, wenn sie beleidigt sind, entschuldige ich mich, aber ich sehe nicht ein, warum sie nicht heute weiterleben sollten. Sie haben ihren Dienst in der Vergangenheit geleistet und haben ihre erste Aufgabe erfüllt."
Ruth Martens Werk ist eine Mischung aus Traum und Fantasiewelt. Ein bisschen poetisch, ein bisschen böse, und auf jeden Fall sehr lustig. Die Künstlerin amüsiert sich über die Welt - über die jetzige und über die vergangene.