Donnerstag, 28. März 2024

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Revolution des Tenors
Wer kann das schon singen?

Der US-amerikanische Tenor Michael Spyres hat seinem Vorbild Gilbert-Louis Duprez ein Album gewidmet. Dafür hat Spyres die eigenen Grenzen ausgereizt: mit der Bruststimme bis zum hohen Es!

Am Mikrofon: Susann El Kassar | 15.10.2017
    Der Tenor Michael Spyres
    Der Tenor Michael Spyres (Russell Duncan)
    Eine "Revolution des Tenors" habe um 1837 in Paris stattgefunden, meinte der Komponist Hector Berlioz. Der Tenor Gilbert-Louis Duprez hatte damals eine neue Gesangstechnik erlernt und beeindruckte sehr damit. Durch ihn wurde die hohe Männerstimme heroischer, dramatischer, ja vielleicht sogar männlicher.
    Jetzt hat der US-amerikanische Tenor Michael Spyres seinem Vorbild Gilbert-Louis Duprez ein ganzes Album gewidmet: "Espoir", zu deutsch Hoffnung, ist beim Label Opera rara erschienen.
    Womit genau setzte Duprez das Publikum seiner Zeit in Erstaunen? Er hatte Töne mithilfe seiner Bruststimme gesungen, die bis dahin nur durch den Wechsel in das hohe Kopfregister erreicht wurden. Das "Do di petto", das C als Brustton wurde sein Markenzeichen. Es revolutionierte seither die Gesangstechnik von Tenören - trieb mindestens einen Kollegen, den Tenor Adolphe Nourrit in den Selbstmord - und es prägte ein neues Rollenbild: den heroischen Tenor.
    Nah an den Noten
    Michael Spyres hat auf "Espoir" fast ausschließlich Opernstücke aufgenommen, bei denen Duprez einst an der Premiere beteiligt war, und fast immer in Hauptrollen. Beispielsweise in Berlioz’ Benvenuto Cellini .
    Der Komponist selbst bemängelte 1838, dass Duprez am Ende der Phrase "Je chanterais gaiment" das g nicht wie vorgesehen über drei Takte hielt, sondern nach nur einem Takt absetzte und so den von Berlioz gewünschten Effekt zerstört habe. Spyres dagegen weicht vom Notentext nicht ab und hält den Ton so lang wie vorgesehen. So hat der Komponist sich das gedacht.
    Daran, wie Spyres die zwei Fermaten auf hohen Tönen, die es in dieser Arie gibt, aushält - nicht übermäßig lang - daran können wir erkennen, dass dieser Gesang keine Ego-Show sein will, dass Spyres kein tenorales Gewichtheben veranstaltet, sondern er bleibt nah am Text und nah an der Musik. Eine Bescheidenheit, die nicht jedem Tenor gegeben ist.
    Gleichzeitig versenkt Spyres sich aber auch nicht in die Rollen, er hält etwas Sicherheits-Abstand zur emotionalen Verfassung der Figur. Man kann das, im Vergleich mit anderen, etwas distanziert finden.
    Überwiegend Opernraritäten
    Die Arie aus Benvenuto Cellini gehört zu den bekannten Stücken auf dieser CD. Dadurch, dass Michael Spyres sich an den Opern orientiert, die Duprez seinerzeit uraufgeführt hat, findet sich aber größtenteils Unbekanntes darunter. Etwa die Oper Guido et Ginévra von Jacques Fromental Halévy. Sie wurde im März 1838 zum ersten Mal aufgeführt, in Paris, es folgten ein paar weitere Aufführungen auch in anderen europäischen Städten, dann verschwanden Guido und Ginévra von den Spielplänen. Spyres hat sie für seine Duprez-Platte ausgegraben und eine Arie und ein Duett zum ersten Mal überhaupt auf CD aufgenommen.
    Im folgenden Ausschnitt trauert Guido um Ginévra, die Frau, die er liebt. Sie aber musste einen Anderen heiraten. Es gibt einen Giftanschlag, daraufhin halten alle sie für tot. Auch Guido. Spyres gestaltet dieses Rezitativ mit zarter Stimme und erhöht hierfür den Anteil der Kopfstimme.
    Begleitet wird Michael Spyres auf dieser CD vom Orchester The Hallé unter Carlo Rizzi. Der Dirigent gestaltet mit dem Traditions-Orchester aus Manchester einen transparenten Klang, und zeigt, dass Opernmusik eben nicht nur von der Stimmkunst des Einzelnen abhängt, sondern genauso vom Orchestersatz, genauer der Instrumentation. Insbesondere den Holz- und Blechbläsern fallen dabei immer wieder exponierte Rollen zu. Sie reflektieren die Stimmung des Sängers, wie beispielsweise gerade die Trompete in ihrem bedrückenden Solo.
    The Hallé klingt auf dieser CD stellenweise etwas matt. Davon abgesehen gelingt es dem Dirigenten Carlo Rizzi, die zum Teil ja sehr schlichten Belcanto-Begleitungsformeln nicht plump wirken zu lassen.
    Gilbert-Louis Duprez war nicht nur fürs Singen berühmt, sondern auch für seine darstellerischen Fähigkeiten. Die Arie des Gaston aus Giuseppe Verdis Jérusalem, eine französische Grand Opéra des Italieners - noch eine Oper, die man so gut wie nie hört - spielte Duprez damals wohl besonders feinsinnig. Spyres transportiert die reichen Nuancen dieser Szene durch seine Stimme. Anfangs erleichtert er seinen Ton, lässt es weich klingen, dann aber, als der Ärger in Gaston kurz aufsteigt, wählt Spyres ein schnelleres Vibrato und gibt so etwas mehr Drama in die Stimme. Weil ja auch die Kunst des Leisewerdens eine besondere ist, sei noch auf eine Stelle hingewiesen, an der Spyres ebenso ein decresendo - ein etwas abruptes - auf einer lang gehaltenen Note vorführen kann.
    "Der Tenor Duprez war der erste, der auf die Pariser Ohren einen Anschlag verübte - mit seinem Brust-C, das nie in meiner Absicht gelegen hatte.", schrieb Gioacchino Rossini. Duprez hatte 1837 mit seiner Interpretation des Guillaume Tell von Rossini und dem darin enthaltenen hohen C die "Revolution des Tenors" eingeläutet. In seiner bissigen Art verglich der Komponist das hohe C aber auch mit dem Schrei eines Masthahns, dem die Kehle durchschnitten wird.
    Vom Schreien ist Michael Spyres glücklicherweise sehr weit entfernt. Seine Technik ist so ausgefeilt, dass man seinen hohen wohlgeformten Tönen furchtlos zuhören kann. Er presst nicht, seine Stimme wird in der hohen Lage nie eng. Und dass seine Stimme trotz des heroischen Charakters auch leicht und beweglich sein kann, zeigt er mit Rossinis Othello, in der Cavatine "Venise, o ma patrie". Der Sänger imitiert darin die militärischen Fanfaren mit seiner Stimme.
    Diese Cavatine ist nicht nur wegen der zahlreichen Verzierungen eine große Herausforderung, auch die stimmliche Spannweite ist enorm. Wir konnten vorhin hören, wie Michael Spyres ein hohes D erreicht und im langsamen Teil dieser Cavatine geht die Stimme runter bis zum tiefen A. Das macht eine Spannweite von zweieinhalb Oktaven!
    Spyres gelingen die Übergänge zwischen den verschiedenen Registern dabei ohne starke stimmliche Umbrüche, und selbst in der Höhe behält er sich eine gewisse dunkle Färbung. Interessant ist hierbei, dass Spyres ursprünglich als Bariton seine Gesangskarriere begann, dann aber ins Tenorfach wechselte und hierfür von Grund auf seine Technik ändern musste.
    Eine in sich konsistente Stimme mit warmem Timbre
    Weil es ja von Gilbert-Louis Duprez keine Aufnahmen gibt, können wir nicht sagen, inwiefern Spyres den Klang seines Vorbilds Duprez trifft. Es gibt die Vermutung, dass Duprez gar nicht durchgehend mit der Bruststimme gesungen hat, sondern diese nur passagenweise oder für bestimmte Töne eingesetzt hat. Es könnte auch sein, dass Duprez' Do di petto aggressiver und gestemmter klang, als es bei Spyres der Fall ist. Was man sich aber keineswegs zurückwünschen sollte! Denn allem Anschein nach war Duprez’ Gesangstechnik damals noch nicht ausgereift. Schon 1841 schrieb Hector Berlioz an seine Schwester, der Sensations-Tenor habe keine Stimme mehr.
    Michael Spyres liefert mit seiner Zusammenstellung der Paraderollen von Gilbert Duprez ein vollständigeres Bild auf die damals neu entstehende Tenorkunst in der Zeit des Belcanto. Auch weil bestimmte Opern von Halévy, Auber, aber auch Donizettis letzte Oper Dom Sébastien und Verdis Jérusalem heute nur höchst selten aufgeführt werden. Für jeden aufgeschlossenen Belcanto-Fan lohnt sich also diese CD, auch weil das Booklet kurze aufschlussreiche Informationen zu den Opern gibt.
    Michael Spyres' Stimme ist vielleicht nicht so rein und fein wie etwa die eines Nicolai Gedda, aber er hat eine in sich konsistente, karamell-artige Stimme mit warmem Timbre entwickelt, mit der er mit Leichtigkeit die hohen Töne trifft und die technischen Raffinessen des Belcanto-Gesangs bewältigt. Darüber hinaus ist die Aussprache des US-Amerikaners im französischen und italienischen deutlich und genau, und die nasalen Vokale klingen sonor, nicht eng.
    Michael Spyres schreibt im CD-Booklet, dass er früher nicht glauben konnte, dass überhaupt irgendjemand diese schweren Tenorstücke singen könnte. Aber genau die hätten ihn gereizt und mit der Hoffnung, dass es ihm - so wie Duprez - gelingen könnte, habe er seine Grenzen überschritten. Der einstige Bariton erreicht dadurch nicht nur das hohe C oder D, nein, ein Mal hören wir auf der Platte auch das hohe Es. Und zwar erreicht per Oktavsprung!
    Espoir
    Michael Spyres, Tenor
    Carlo Rizzi, Leitung
    The Hallé
    Label: Opera rara
    EAN: 7 92938 02512 4