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Rituale und Rezepte

Essen bedeutet niemals bloße Nahrungsaufnahme wie bei Tieren, die fressen. Essen und menschliche Nahrung sind immer schon eingebunden in eine Kultur und in ein soziales System. Deshalb sind sie Kulturgüter, die von Anfang an soziale und religiöse Dimensionen aufweisen.

Von Peter Leusch | 23.12.2010
    "Ich esse gern iranischen Reis und Lammfleisch. Und wir machen viele Gerichte mit Safran."

    "Sehr gerne Suppen, weil es in Russland eine gute Tradition gibt, Suppen zu essen, warmes Essen wegen des Klimas."

    "Und ich esse gern Fleisch, Salat und viele Süßigkeiten."

    "In Genf isst man mehr wie die Franzosen. Und wir haben auch viele Käsesorten und Schokolade."

    "In Südchina essen die Leute auch Katze, aber Hund ist in ganz China essbar. Viele Leute denken, im Winter wenn man Hundefleisch gegessen hat, wird einem ein bisschen wärmer."

    Ausländische Studierende an der Fachhochschule Köln erzählen, was in ihren Ländern auf den Tisch kommt, was sie selber gern mögen, aber auch was ihnen gar nicht schmeckt aus deutscher Küche.

    "Ich esse nicht gerne dieses, dieses - 'Sauerkraut', das ist nicht typisch indonesisches Essen."

    "Und die Deutschen mögen nicht unser Obst, das heißt Durian - das stinkt super."

    "Und ich esse nicht gern Butter und Käse und Nüsse und Süßigkeit. Aber in Deutschland isst man immer diese Sachen."

    "Asiaten haben Probleme mit dieser Verdauung. Wenn wir Käse essen, haben wir ein bisschen Probleme im Bauch - das ist auch ein Grund.

    Eigentlich esse ich alles Mögliche außer Bohnen. Und in Deutschland gefallen mir am besten die Süßigkeiten und verschiedene Spezialitäten, die es auf den Weihnachtsmärkten gibt."

    Es gibt eine ungeheure Vielfalt an Nahrungsmitteln auf der Erde, dazu eine Fülle an Konservierungs- und Zubereitungsarten, von der Rohkost bis zur Haute Cuisine. Alles, was halbwegs verdaubar ist, hat die Menschheit im Laufe ihrer Geschichte schon verzehrt, vor allem dann, wenn der Hunger regiert, erklärt der Ethnologe Klaus E. Müller. In Notzeiten hätten die Menschen sogar Erde gegessen.

    "Im Laufe der fast Jahrhunderttausende der Entwicklung kann man wohl davon ausgehen, dass die Menschen alles einmal ausprobiert haben. Und dann durch Selektion, durch Auslese, sich herauskristallisiert hat, was besonders gut ist, was bekömmlich ist usw. Und da hat man auch auf Erde zurückgegriffen, denn das ist weltweit verbreitet, dieses Erde-Essen, und zwar in bestimmten Mangelsituationen, weil diese Erden Fett und Salz enthalten und auch wichtige Mineralstoffe."

    Essen bedeutet aber niemals bloße Nahrungsaufnahme wie bei Tieren, die fressen. Essen und menschliche Nahrung sind immer schon eingebunden in eine Kultur und in ein soziales System: Wer besorgt Nahrung, wer sammelt, sät und erntet? Wie kooperiert die primitive Gruppe bei der Jagd, wie teilt sie sich in die Beute?

    Der Mensch lädt Schuld auf sich, weil er Tiere tötet. Wie kann man die Götter ob dieses Frevels wieder versöhnen, ihnen für die gute Ernte danken?

    Essen und Nahrungsmittel sind Kulturgüter, sie weisen von Anfang soziale und religiöse Dimensionen auf, diese Botschaft durchzieht wie ein roter Faden die Kleine Geschichte des Essens und Trinkens - so der Titel des Buches, das Klaus E. Müller im letzten Jahr veröffentlicht hat.

    Die kulturelle Prägung der Nahrungsgüter hat aber auch dazu geführt, dass - je nach Region und Religion unterschiedlich - manche Nahrungsmittel verpönt oder sogar verboten, andere wiederum zu einer "heiligen Speise" aufgewertet wurden. Klaus E. Müller hat hier die besondere Rolle des Brotes untersucht, dessen Karriere schon lange vor dem Christentum bei den Bauernvölkern Vorderasiens begann, die Korn anbauten.

    "Bevor man etwas isst von einer Ernte, muss es gewissermaßen von den Ältesten einer Gesellschaft angekostet werden, also die essen ein sakrales Mahl aus den Erstlingen: Die Getreide oder Nahrungsfrüchte sind eigentlich der Leib der Korngottheit oder Fruchtpflanzengottheit, also der Himmel ist der Vater, die Erde ist die Mutter, und im Frühjahr findet die sogenannte heilige Hochzeit statt, wo die sich befruchten, wenn der erste Regen herunterfällt, sprießt das Korn auf, und wenn es reif ist, dann wird es getötet, und das ist furchtbar für die Menschen, die sind dabei ins Knie gebrochen, haben geklagt und gejammert aus Schuldgefühlen - das spielt ins Christentum hinein, auch in andere Religionen. Und darum hat das Brot die Bedeutung bekommen, Leib oder Fleisch sozusagen des Korngottes zu sein - Osiris, Atis, Adonis und wie sie alle hießen."

    Ebenso wie manche Speisen kulturell aufsteigen, gibt es andere, die abgewertet und als unrein oder sogar ekelhaft verworfen wurden. Hier denkt man zunächst an die religiös begründeten Verbote: kein Schweinefleisch bei Juden und Muslimen, kein Rind bei den Hindus. Aber auch in Europa sind spezifische Ekelschranken entstanden, die uns in Fleisch und Blut übergegangen sind, ohne dass man dafür einen rechten Grund kennt - zum Beispiel gegenüber dem Verzehr von Insekten.

    "Insekten werden praktisch weltweit gegessen. Wir im Westen sind der einzige große Block auf der Welt, der zumindest seit 1000 Jahren Insekten grundsätzlich als ungenießbar klassifiziert. Die alten Römer haben noch Insekten gegessen, und im Alten Testament werden die Heuschrecken erwähnt, die man essen darf. Auch die alten Griechen haben noch ein paar Insekten gegessen, aber seit dem Untergang des Römischen Reiches gelten Insekten im Westen als ungenießbar - da haben wir ein riesiges Speisemeidungsgebot oder -tabu entwickelt, das bei uns zwar unausgesprochen ist, aber das gilt.
    In allen anderen Kulturen der Welt werden einige Insekten als genießbar klassifiziert, und in Südostasien sehr ausgeprägt."

    Marin Trenk lehrt Ethnologie an der Universität Frankfurt. Trenk forscht insbesondere zum Thema Essen und Ethnologie. Dabei hat er die Beobachtung gemacht, dass sich lokale Kulturen mit ihren Essgewohnheiten gegenüber globalen Trends, gegenüber Coca Cola und Fastfood durchaus behaupten. Denn die vom westlichen Gaumen verpönten Insektensnacks seien in Thailand mehr denn je ein beliebtes Alltagsessen.

    "Das wird als Merkmal eigener Identität verstanden, es gilt als köstlich und es wird heute mehr verzehrt als vor 30 Jahren, Sie bekommen in Bangkok überall Insektensnacks angeboten, was vor 30 Jahren nicht der Fall war, da gab es auch welche, aber nicht in dem Maße."

    Im Kulturvergleich zeigt sich, dass einige Länder Südostasiens - Laos, Nordthailand, Vietnam und Südchina - die Grenzen der Essbarkeit am weitesten ausgedehnt haben. Aber auch hier verzehrt man keineswegs alles, was essbar wäre. Auffallend ist, dass in ganz China bis heute Milchprodukte abgelehnt werden, Obwohl Milch doch für viele Kulturen eine zentrale Rolle spielt.

    In der Vergangenheit haben Wissenschaftler dafür eine ernährungsphysiologische Erklärung gegeben. Es hinge mit einer Laktose-Intoleranz der Chinesen zusammen, dass sie also keine Milch abbauen könnten. Doch das ist inzwischen widerlegt. Marin Trenk erklärt das Phänomen ganz anders:

    "Interessant ist, dass die Nachbarn der Chinesen immer Milch konsumierende Kulturen waren, die Tibeter, die Uiguren, die Mongolen, mit denen sie zu tun hatten, - also aus der chinesischen Perspektive waren es die Barbaren an der Grenze des Reiches, die wurden mit Milch identifiziert, und für die war Milch ein Grundnahrungsmittel, und da ist es sehr auffallend, dass die Chinesen sich davon abgegrenzt haben, irgendwie war Milch eine Identität stiftende Nahrung der Nachbarn, und damit blieb es außen vor.

    In dem Augenblick wo es nicht mehr mit den Barbaren, sondern mit den Europäern und deren Fortschritt identifiziert wurde, kommt der Trend auf, dass man auch in China Milch konsumiert, und das ist sicher einer der großen Trends momentan."

    Nahrungsvorlieben und -aversionen bestimmter Kulturen erfüllen demnach auch die Funktion, sich von den anderen abzugrenzen und die eigene Identität zu stärken. Davon künden die Schimpfwörter, mit denen man die Nachbarn belegt. In den 60er und 70er-Jahren schmähte man die Italiener als Spaghettifresser. Heute, wo Nudeln in Deutschland beinahe genauso beliebt sind, macht dieses Schimpfwort keinen Sinn mehr und ist verschwunden.

    Ein ganz besonders Kapitel der Kulturgeschichte des Essens stellen die Süßigkeiten dar. Zucker ist ein historisch junges Phänomen, weil der tropische Rohrzucker erst nach der Entdeckung und Kolonisierung Amerikas nach Europa kam. Und auch dann war er noch ein Luxusgut. Die Antike kannte ihn nicht, sodass die raffinierte römische Küche ohne Zucker auskommen musste. Die Römer süßten mit Honig.
    Klaus E. Müller:

    "Die ersten Süßigkeiten, die man hatte, waren Honig, und der war sehr selten, Wildhonig, der musste unter großen Mühen von Felswänden oder hohen Bäumen erbeutet werden, dann natürlich im Wildobst zunächst, später im Hausobst, - oder in Zuckerrüben. ...
    Also Honig war selten und Honig war schön süß, daher hatte er auch einen hohen Handelswert, später konnten nur reiche Familien sich das leisten oder man konnte ihn nur an Festen zu sich nehmen, daher die hohe Bedeutung an Festen oder an Sonntagen wo es dann einen Nachtisch gab."

    Süßigkeiten und Naschwerk waren immer etwas Besonderes, ein kleiner Luxus für den Gaumen. Sie bildeten keine Alltagsspeise, gehörten vielmehr zu besonderen Anlässen, zu den großen Festen, wo sie bis heute kombiniert mit anderen ausgewählten Gerichten für Überfluss sorgen und die Menschen verwöhnen.

    "Jedes Fest hat eine bestimmte Spezialspeise gehabt. Und das Brot dazu hat eine bestimmte Form gehabt. Das nennt man Gebildbrot. So kennt man an Weihnachten den Stollen, oder Plätzchen in Form von Schweinen. Es gibt auch viele andere, aber der Festtagsbraten an Weihnachten ist in Europa traditionell der Schweinebraten, nicht die Gans, in Nordeuropa spricht man vom Juleber, weil auch in Walhalla die Götter dauernd Schweinebraten gegessen haben, und so konnten an bestimmten Festtagen die Christen es auch machen, und daher gibt es das auch in Brotform als Schwein, Niloläuse als Plätzchen, Halbmonde, Monde usw."

    Gerade zu Weihnachten haben sich viele lokale Esstraditionen erhalten. Lange vor dem Fest schon wird nach alten Rezepten gebacken und gekocht, auch wenn die symbolischen Bedeutungen und Anspielungen vieler Speisen nicht mehr bekannt sind.

    "Apropos Stollen, das hat mich immer wieder gewundert, warum der an Weihnachten gegessen wird, aber das ist ein altes Sinnbild für das Wickelkind Jesu, da sind zum Beispiel Mandeln drin, und Mandeln sind süß, Marzipan und Marzipanspeisen spielen an Weihnachten eine besondere Rolle."

    Wenn Ethnologen, die normalerweise fremde Esskulturen untersuchen, ihren professionellen Blick zurückwenden auf unsere eigene, wird es spannend. Marin Trenk diagnostiziert eine ganz bestimmte Entwicklung:

    "Wir haben einen ganz großen Trend, dass immer weniger Leute, immer weniger Innereien essen - das ist ein Trend den man beobachten kann, ich habe mal eine Befragung gemacht mit meinen Studenten, selbst von denen essen 75 Prozent nie irgendwelche Innereien, und wenn dann am ehesten noch Leber - also das ist ein ganz starker Trend, dass bei uns alles was nicht Muskelfleisch ist, gemieden wird. Das andere ist, dass die Leute heute kein erkennbares Fett mehr essen. Sie werden heute in den USA nie einen College-Studenten überreden eine Salami zu essen, weil einen da die Fettflecken so anschauen, und bei uns, wenn man die Leute fragt, was machen Sie mit einem Fettrand am Steak, dann sagen drei Viertel: "wegschneiden, wegwerfen"."

    Die Abwendung von Fett und Innereien hat zu einem grotesken Fleischhandel geführt: Geflügelzüchter machen ihren Umsatz allein mit der Hühnerbrust, die anderen Teile haben hierzulande keinen Markt und werden in die ganz Welt verscherbelt: die Keulen reisen nach Afrika, die Hühnerflügel in die Sowjetunion, und die Füße landen in Thailand in der Suppe.

    Dass die Leute meist nach magerem Muskelfleisch verlangen, liege - so Marin Trenk - im Wesentlichen nicht an dem Willen Kalorien zu sparen. Er glaubt vielmehr, dass die höhere Geschmacksintensität von Fett, und der stärkere Eigengeschmack von Innereien zu dieser Ablehnung führen. Trenk nennt aber auch noch einen zweiten Grund:

    "Da kommt hinzu, dass man möglichst nicht sehen will, wie das Tier, von dem das Ganze abstammt, einstmals ausgesehen hat, also der Trend, Stücke herauszuschneiden, in eine neue Form gießen und die dann noch zu panieren, diese Chicken-Nuggets-Entwicklung - panierte Hühnerbrust, die vermutlich am wenigsten nach etwas schmeckt, - ich sehe darin einen Trend, dass man nicht mehr sehen will, womit man es zu tun hat, und schmecken soll es gar nicht nach etwas Intensivem: Invisibilisierung nenne ich diese Entwicklung - möglichst unsichtbar machen, was das Teil einmal war - und das kann man bei einer Schweinezunge, die man auf dem Teller hat, sehr viel schlechter als bei einer Hühnerbrust, die man in so einen Klotz umformen kann."

    Solange Menschen Fleisch essen, machen sie sich schuldig, weil sie Tiere töten. Jede Kultur weiß das, und jede Kultur versucht das Töten und das Essen von einander zu trennen, legt Rituale dazwischen: Opfer und Gebet, Reinigungszeremonien und Esssitten, die für Frieden bei Tisch sorgen sollen.

    Ist die Invisibilisierung, wie Marin Trenk es nennt, ein weiterer Schritt weg von Natur, eine Weise zu verdrängen und zu leugnen, was Fleischessen bedeutet.


    Wohin geht weltweit die Entwicklung des Essens? Im Zeichen der Globalisierung haben Coca Cola und Fastfood inzwischen den Globus erobert. Aber Marin Trenk glaubt nicht, dass es dabei zu einer Nivellierung des Essens kommt.

    "Interessant ist, dass diese Fastfood-Ketten zwar weitestgehend gerne übernommen werden, auch in Kulturen, die einen völlig anderen Begriff von Geschmack haben wie etwa die ostasiatischen und komplexe Esskulturen sind, aber dass sie nur die Palette erweitern. Man geht vor allem gern in die Filialen, denn die sind so modern, air-conditioned, - das Stichwort in der Debatte ist "consuming modernity" - also man isst jetzt weniger einen Hamburger, als dass man teilhat an der Modernität, für die das steht in dem Augenblick, wo man dort ist."

    Und hierzulande?
    Statistisch werden immer weniger Mahlzeiten selbst zubereitet und zu Hause genossen. Die Menschen verpflegen sich außerhalb - in Mensa und Kantine, beim Imbiss oder in der Bäckerei. Das zehrt auch am sozialen Zusammenhalt in den Familien und Beziehungen, der gerade durch die gemeinsame Mahlzeit, das Beisammensein am Tisch gestärkt wird.
    Feste vermögen diese Entwicklung nicht umzukehren. Aber sie zeigen, dass man immer noch um den Wert einer selbst gemachten Nahrung weiß, die man schenkt oder empfängt - zum Beispiel die Plätzchen in Süddeutschland, die sogenannten Gutsle.

    "Die Gutsle, da ist das Wichtige, dass die selbst gebacken sind, - wenn man irgendwohin geht in Baden-Württemberg, bringt man selbstgebackene Plätzchen mit, die dürfen nie gekauft sein, das heißt Eigengemachtes wird getauscht, das lebt noch ein bisschen nach, wenn Sie ins Ausland gehen oder sonst wohin. Wenn Sie etwas verschenken wollen, dann schenken Sie eine Spezialität des eigenen Landes oder der eigenen Stadt."