Donnerstag, 28. März 2024

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Schade um Italien!

"Die Italiener ... schreiben weder über ihre Sitten, noch denken sie darüber nach, genauso wenig wie über irgendetwas anderes, das für sie selbst oder andere wichtig oder lohnend wäre ..." Diese bestimmt nicht schmeichelhafte Erkenntnis verdankt sich keinem deutschen Italienbesucher. Sie ist nicht Ergebnis eines fremden Vorurteils. Ressentiments gegen Italiens Gesellschaft kann man bei Goethe finden, der Roms Bewohner in seiner Italienischen Reise wegwerfend "Naturmenschen" nannte, oder beim beliebigen deutschen Italien-Touristen, der behauptet, Italiener seien kindisch, auftrumpfend und oberflächlich. Wenn man Anselm Jappes Textsammlung selbstkritischer Reflexionen italienischer Schriftsteller von Giacomo Leopardi bis Pier Paolo Pasolini folgt, lassen sich in Fremd- und Binnenperspektive freilich etliche Gemeinsamkeiten entdecken. Vom präpotenten Italiener, von seiner Geistlosigkeit, seinem mangelnden Bürgersinn kann man bei Fabio Cusin oder Ennio Flaiano Bitteres und Sarkastisches lesen. Verraten kommen sie sich vor, diese Intellektuellen und Schriftsteller, vom Land, von seinen Bewohnern, von Politik oder klerikaler Macht.

Jan Koneffke | 01.01.1980
    Mit bissiger Ironie kreist Ennio Flaiano einen europaweit verbreiteten Fetisch ein, der in Italien allerdings besonders grotesk verehrt wird. In seinem "Wörterbuch des Autos" von 1970 heißt es: "Wir halten den Fußgänger für einen elenden ... Wicht, den nur unsere Großmut am Leben erhält. Wir überfahren ihn, wenn er die Straße auf seinen schrecklichen Zebrastreifen überquert, wir respektieren ihn hingegen, wenn er sie weit enfernt von besagtem Zebrastreifen überquert - denn wenn er zeigt, die Straßenverkehrsordnung zu mißachten, wird er uns sympathisch."

    Und unterm Stichwort "Stop" vermerkt Flaiano: "Schild, das für die meisten bedeutet: weiterfahren ohne anzuhalten..."

    Was Flaiano mehr satirisch und ausgesprochen komisch abhandelt, wird in anderen Texten reflektierter, und historisch, befragt. Eine Entdeckung dieses Bandes ist bestimmt Fabio Cusins Text "Der Italiener. Ein Volk von Individuen", der 1945 erschien, und in Italien keine Neuauflage erlebte. Ob er das seinen reichen Einsichten verdankt? Es sind Einsichten in einen Volkscharakter, der Gleichgewichtssinn und Anpassungstugenden vereint. Im sich zu Humanismuszeiten bildenden Individuum konnte sich beides sinnvoll entfalten. An Renassaincekunst ist das unschwer zu belegen. Wo Maße und Proportionen allerdings keinem substantiellen Zweck mehr dienen, werden sie dekorativ. Und ein Individualismus, der sich absolut setzt, wird zur inhaltslosen Ich-Feier.

    "Der Italiener gefällt sich darin, den banalsten Begriff mit einem vor schönen Worten überquellenden Redefluß zu wiederholen ... die Angewohnheit, der bloß äußeren Form Wert beizumessen, ... rät ihm, auch in der gewöhnlichsten und beklatschtesten Äußerung den persönlichen Erfolg zu suchen." Freilich ist dieser italienische Individualismus, der sich nie einem Staat, einer Verwaltung, einem Heer mit Leib und Seele verschreibt, eine anarchische Kraft gegen totale Fremdbestimmung. Im italienischen Faschismus hatte das, anders als im deutschen Nazismus, subversive Folgen. Und es ist eher Cusins Familien-Kapitel, das erstaunlich aktuelle Kritik leistet. Cusin spricht von mangelndem Geist und fehlender Sitte in italienischen Familien und bedient ein Vokabular seiner Zeit. Treffend ist seine Bemerkung von Familienritualen, die intimere Bindungen ersetzen. Und seine Erkenntnis vom Italiener, der sich in zwei Welten bewegt, seiner Familie und einem feindlichen Außerhalb, gegen das er sie verteidigt, belegt ein "soziales Gewebe", das aus zahlreichen Mikrokosmen besteht. Wo Verwaltungen und Staatsapparat sich Familieninteressen zu beugen haben, leiden sie automatisch an Ineffizienz und Korruption. Familie und Katholizismus lassen Barmherzigkeit zur ersten Kategorie werden, zu ungunsten von Gerechtigkeit und Freiheit. "Zur Freiheit kann die Seele nur streben, indem sie sich von den Instinkten, Trieben und Gefühlen löst, die das verbindende Gewebe der Familie darstellen. Indem diese die Freiheit verneint, schafft sie die tiefe ethisch-politische Unzulänglichkeit des Italieners."

    Anselm Jappes Buch, das ist aus seinem Vorwort zu erfahren, will nicht bloß zweihundert Jahre italienische Selbstkritik dokumentieren. Jappes Textsammlung erkundet, ob Italiens Gesellschaft nicht Modellcharakter haben kann. Ob italienische Anpassungstugend und Improvisationserfahrung nicht lehrreiche Beispiele bieten in einer Zeit zusammenbrechender Ordnungs- und Sozialsysteme. Denn Italien hat es verstanden, gegen und mit seinen Traditionen, gegen und mit seinen "systemischen" Defiziten, sich wirtschaftlich und technologisch zu modernisieren.

    "Die in Italien erworbenen Erfahrungen in der Kunst, auch unter schwierigsten Bedingungen zu überleben, indem man aus seinen Schwächen seine Stärken macht, sind äußerst wertvoll, wenn die globale Wetterlage jeden Tag unsicherer wird. Das Modell Deutschland, von dem in den siebziger Jahren soviel gesprochen wurde, stellte den Höhepunkt der fordistischen Modernität dar und kann nur unter optimalen Bedingungen funktionieren." Anselm Jappes ketzerische These einer Italianisierung Europas muß besonders in deutschen Ohren schrill klingen. Sie ist allerdings eher als Zuspitzung zu lesen. Denn in Italien sind politische und gesellschaftliche Entwicklungen zu verzeichnen, die italienischen Besonderheiten widersprechen. Als Naivling werde in Italien der betrachtet, der offizielle Regeln verbindlich machen wolle, behauptet Jappe etwa, und vergißt Antonio Di Pietro, der sich mit seinen Ermittlungen gegen Bettino Craxis korrupte Cliquenwirtschaft zum Volkshelden mauserte. Di Pietros beinahe jakobinischen Eifer wollte bald niemand mehr als Narretei verspotten. Und ein anderer Autor in Jappes Textsammnlung, Pier Paolo Pasolini, beklagt Traditionsverluste und kulturelle Gleichschaltung bei jener Modernisierung, der Italiens Besonderheiten dienlich sein sollen.

    "Keinem Faschismus ist das gelungen, was der Zentralismus der Konsumgesellschaft angerichtet hat ... Durch das Fernsehen hat das Zentrum das ganze Land, das historisch so vielfältig und so reich an eigenständigen Kulturen war, seinem eigenen Bilde angeglichen. Eine zerstörerische Gleichschaltung jeder Echtheit und Konkretheit hat begonnen." Pier Paolo Pasolini verfolgt, was er als kulturelle Verarmung erkennt, bis ins mimische und somatische Alltagsverhalten. Seine Freibeutertexte sind Anklageschriften an eine politisch nicht mehr verantwortliche und haftbar zu machende Macht, die sich Modernisierung nennt. Sie hat italienische Traditionen in erheblichem Maße beseitigt oder verschaffen. Ehe man von einer Italianisierung Europas spricht, muß man von einer Amerikanisierung Italiens sprechen. Was sich an Europas Horizont abzeichnet ist kulturelle Gleichschaltung - nicht eine Italienisierung oder Germanisierung. Ob mit oder ohne ECU: In dieser kulturellen Gleichschaltun werden regionale Eigenheiten verschwinden, wo sie nicht bereits verschwunden sind - und bestenfalls als romantizistische Reservate erhalten bleiben. Es ist kein Zufall, wenn Pasolini, der in seinen Freibeuterschriften einfaches Leben, Bauern und Landvolk verhimmelt, heute von Italiens Rechtsextremen verehrt und vereinahmt wird.

    "Die Italiener selbst schreiben weder über ihre Sitten, noch denken sie darüber nach, genausowenig wie über irgend etwas anderes, das für sie selbst oder andere wichtig oder lohnend wäre ..." Dieser Satz stammt von Giacomo Leopardi. Anselm Jappes Sammlung "Schade um Italien! Zweihundert Jahre italienischer Selbstkritik" dementiert Leopardis Behauptung - und alle billigen Ressentimens vom kindischen, auftrumpfenden und oberflächlichen Italiener.