Kann man im Schlaf schwanger werden? Man kann schon. Wenn zufällig mal nicht der Heilige Geist tätig war, geschieht dies normalerweise durch Vergewaltigung nach Betäubung des begehrten Objekts. Kleist schiebt einen Ohnmachtsanfall vor - der die Marquise von O., gerade von einem ritterlichen Retter aus der Macht lüsterner Soldaten befreit, so attraktiv erscheinen lässt, dass der Retter selber nun nicht an sich halten kann. Sprich: Ihr sollt sie nicht haben, ich will sie für mich.
Die "unerhörte Begebenheit" ist also schon geschehen, als Kleists Erzählung einsetzt und die verwitwete Marquise, eine alleinerziehende Mutter, per Zeitungsanzeige nach dem möglichen Kindsvater sucht. Dass die Aufklärung des Falles ein Thema fürs Theater sein könnte, liegt nicht nur an der ungeheuer starken Figur der Marquise, die, entgegen jeder Konvention von Scham und Ehre, nicht als geducktes Opfer durchs Leben gehen will. Es liegt auch an der Möglichkeit, die übrigen Figuren der Erzählung als Lemuren eines Albtraums herbeizuzitieren, den Vater, die Mutter, den Retter, der der Marquise als Engel erscheint, der sich aber als Teufel herausstellt, als reuiger Teufel allerdings, der gerade durch seine niedrige Tat vom Fieber der Liebe ergriffen wird und die Marquise heiraten will.
Erster Teil: Spannung zwischen dem Verwerflichen und dem großen Gefühl
Der gesamte erste, feine, kammerspielartige Kleist-Teil des Abends ist grandios, weil Armin Petras diese ungeheure Spannung zwischen dem Verwerflichen und großen Gefühl sichtbar machen kann, die Einsamkeit der Marquise, das Fratzenhafte des an seiner Ehre orientierten Vaters, die stumme Verzweiflung des um Wiedergutmachung bemühten Täters, des Grafen F. Man muss sich mal vorstellen, was da geschehen ist: Eine Frau wird schlafend beschlafen, der Vergewaltiger verliebt sich, aber er kann sich ja nicht einfach outen. Das Vertrauteste, Vater, Mutter, der verliebte Graf, stellt sich als feindlich heraus.
Dieses komplizierte Gefüge auf die Bühne zu bringen ist allein schon eine Wahnsinnstat. Petras lässt auf einer von Annette Riedel konstruierten kalten, Plattenbau-artigen Fläche spielen, die sich bisweilen steil nach hinten oder nach vorne neigt – wie eine alles zermalmende Scheibe kommt diese Rampe auf uns zu. Und wie auf dem Mond, wie auf einem fernen Planeten werden die Figuren dort choreografiert, zueinander gestellt, verlassen stehen sie im Licht, die historischen Kostüme werden abgefedert durch Alltäglichkeiten. Kleists schöne analytische Sprache spricht sich bei der unglaublichen Fritzi Haberlandt wie von selbst, sie erzählt von sich und betrachtet sich von außen, sie staunt und sucht und bleibt immer ganz bei sich, bei der Figur. Durch die voranschreitende Schwangerschaft entsteht Zeitdruck für alle, für den sexuell angefixten reuigen Grafen, für die Marquise, die ihre Kinder ins Bett bringt und der das Kind, das sie im Bauch trägt, als hässliche Krake aus dem Bühnenhimmel entgegen fällt.
Die Inszenierung gibt viele verschiedene Perspektiven frei, sie verschränkt die Erzählebenen – Petras ist da viel unbefangener als etwa Matthias Hartmann, der in seinen Literatur-Adaptationen meist nur sagt, was passiert, und dann spielen lässt, was passiert. Petras zitiert sogar die verbundenen Augen aus Peter Steins berühmter "Homburg"-Inszenierung, er koppelt wie immer High and Low – die Musik kommt von den Stones. Die Marquise ist bei Fritzi Haberland ein im Wortsinne reizender, intellektuell begabter, reifer gewordener Backfisch, vom Schicksal beschädigt, aber voller Widerstandskraft gegen die unerklärliche Einrichtung der Welt.
Zweiter Teil: "Drachenblut"
Alles wäre gut an diesem Abend, hätte Petras die Geschichte der einsamen Frau nicht in die Gegenwart fortgesponnen – mit Christoph Heins "Drachenblut". Dies ist in der Tat eine der virtuosesten Erzählungen zur Tristesse der DDR, die der Tristesse der BRD verblüffend ähnlich war. Aber nicht jedes Stück Prosa lässt sich widerstandslos in den großen Schlund des Theaters einwerfen, und bis auf oberflächliche Gemeinsamkeiten gibt es keinen Konnex zu Kleist: die Marquise will leben, die Hauptfigur bei Christoph Hein hat schon genug vom Leben. Astrid Meyerfeldt geht die Figur denn auch eher technisch an, sie steht im Lichtkegel und spricht Text. Maximilian Simonischek darf als sexueller Freibeuter-Filou ein bisschen glänzen. Aber: Das "Gefühl endgültiger Einsamkeit" stellt sich so nicht her, eher ein Gefühl inszenatorischer Hilflosigkeit.
Kürzlich hat Philipp Preuss in Leipzig eine passabel beginnende, düstere "Reigen"-Inszenierung durch einen angeklebten Godard gekillt; in Stuttgart entwertet Armin Petras seine Kleist-Einrichtung, die umstandslos aufs Theatertreffen gehört, durch einen trostlosen zweiten Teil. Es sind diese saublöden Dramaturgen-Ideen, die alles mit allem kombinieren – und dadurch alles nur ruinieren.