Sonntag, 28. April 2024

Archiv

"Schere Faust Papier" im Hamburger Thalia
Wanderung in die Vergangenheit nach der Apokalypse

Kein Kinderspiel, sondern eine Wanderung zurück in die Steinzeit ist das neue Stück von Michel Decar. Regisseur Ersan Mondtag hat "Schere Faust Papier" eindrucksvoll inszeniert - mit menschenartigen Pantoffeltierchen, Sprachmusik über Marimbaphon und viel Spielfantasie.

Von Michael Laages | 19.12.2016
    Der Regisseur Ersan Mondtag spricht 2016 in Berlin während der Pressekonferenz zum 53. Berliner Theatertreffen.
    Ersan Mondtag führte Regie bei der Uraufführung der komischen Apokalypse „Schere Faust Papier“ von Michel Decar. (picture alliance / dpa / Soeren Stache)
    In einem Bunker sind da fünf Wesen zu Hause - und dass es draußen wohl donnert und blitzt und alle möglichen Angriffswellen auf den Schutzraum hernieder prasseln, vom Schrapnell bis zur Atombombe, ist drinnen kaum zu spüren.
    "Diese Wände sind meterdick." - "Da kann gar nichts passieren." - "Da kann man schon viel versuchen." - "Da kann man sein ganzes Arsenal testen; von mir aus – gerne!" - "Wollen uns in die Steinzeit zurück bomben." - "Das wäre ja noch schöner! Da können sie lange schmeißen." - "Bitte, nur zu!" - "Hej, Leute, seid mal kurz still!"
    Wer kennt nicht diesen kriegerischen Satz, dass irgendjemand "in die Steinzeit zurück gebombt" werden soll. Hier ist er sinnstiftend geworden. Irgendwo da draußen ist Krieg, und vielleicht ist die Welt, wie wir sie kennen, auch schon ein anderer Stern – als bunte kleine Kugel dreht sie sich jedenfalls links oberhalb von Paula Wellmanns Bühne. In jedem Fall haben die Fünf sich eingerichtet in ihrer Sicherheit.
    Pantoffeltierchen-Kostüme sind schon ein Ereignis für sich
    Wer sie sind? Die Kostüme von Josa Marx sind ein Ereignis für sich. Fünf menschenartigen Pantoffeltierchen sehen und hören wir da zu, pelzige Front- und Rück-Seiten haben sie, übergroße Füße, überlange Greifhände mit je drei Fingern dran. Sind das Milben, sind das Käfer? Jedenfalls sind das die letzten Überlebenden der Zivilisation. Und ja - "in die Steinzeit" zurück wurden sie gebombt, denn während sie immer wieder "ein Kratzen" hören durch meterdicken Beton - neue Bomben eben, wandern sie singend durch die zerklüftete Rest-Welt.
    Und diese Wanderung führt sie tatsächlich ganz weit zurück in der Geschichte, zum Beispiel in die Höhlen von Lascaux.
    "Sagt mal, wart eigentlich Ihr das da hinten an der Wand?" - "Was? Wo?" - "Da sind Linien und Kreise - Zeichnungen; von Tieren und Menschen, wenn Ihr mich fragt. "- "Okay."
    Und die Höhlis wandern weiter; wie in Stanley Kubricks legendärer Eröffnungssequenz für den Filmklassiker "2001 – Odyssee im Weltraum", nur eben rückwärts - vom Atomzeitalter in die Ur-Welt. Noch einmal erleben sie die Entwicklung der Zivilisation: Urgesellschaft, Mittelalter, Revolutionen, den deutschen Faschismus und alle anderen Massaker der Menschheit; bis sie wieder im Bunker vom Beginn ankommen. Diesen Warteraum kurz vor dem Nichts haben sie wohl nie verlassen.
    Starkes Stück von Michel Decar
    Michel Decar hat ein im Kern wirklich sehr starkes Stück geschrieben. Die latente Unaufführbarkeit, die dem Gesamttext wohl auch eingeschrieben ist, lässt in Hamburg nur der schmale Programmfalter ahnen. Und Ersan Mondtag, bislang stets mit extremer Abstraktion beschäftigt, inszeniert tatsächlich mit überschäumender Spielfantasie und darum genau so grandios die Kernstruktur dieses Textes. Der Berliner Multi-Instrumentalist Max Andrzejewski hilft ihm sehr dabei.
    Das Sprechen über Marimbaphongeklöppel - wie zu Beginn zu hören - gibt der Aufführung ein hinreißend strenges Entrée; und auch danach bleibt die Stimm- und Sprachführung extrem musikalisch. Das Hamburger Ensemble geht ganz auf im Kollektiv. Nur wer Marie Löcker, Oda Thormeyer und Cathérine Seyfert, Thomas Niehaus und Tilo Werner über die Jahre in Hamburg schon ein bisschen besser kennen gelernt hat, entdeckt in der Sprach-Musik des Stückes auch die Melodien der ganz privaten Menschenstimmen.
    Am Ende umarmen fast alle einander noch mal. Und nur das letzte Pantoffeltierchen betet noch ein Weilchen den schönen bunten Planeten an, der die Welt gewesen ist. Selten war Apokalypse so komisch wie bei Decar, und noch nie hat der mit viel zu viel Hype umgebene Jungstar Mondtag so unübersehbar eindrucksvoll Regie geführt.
    Das war eine echte Vorweihnachtsüberraschung hinter dem Theaterkalender-Türchen in Hamburg.